Das Urteil
hier vermerkt hätte.«
Auf der anderen Seite des Gerichtssaals sah Hardy Powell auf seinem Stuhl sitzen, die Hände vor sich gefaltet, den Kopf gesenkt. Powell wurde der Garaus gemacht, und er wußte es. Freeman, der noch einen halben Minuspunkt zu verbuchen hatte - die Nadeleinstiche auf dem Oberschenkel -, war noch nicht einmal gewillt, das zuzugeben. Er hatte sich während des überaus raschen Fragenabtauschs beinahe bis zum Rand des Zeugenstands bewegt und spazierte jetzt wieder zurück in die Mitte des Saals. »Aber es ist doch möglich, Dr. Strout, oder nicht, daß Sie vielleicht selbst einen frischen Nadeleinstich übersehen haben könnten?«
Der Gerichtsmediziner, der unbarmherzig ehrlich war, nickte freundlich und setzte sogar noch einen darauf. »Nicht nur könnte ich das getan haben, Mr. Freeman, es sieht ganz danach aus. Die Injektion erfolgte im Oberschenkel. Das ist die einzige Möglichkeit, wie sich das Atropin dort anreichern konnte. Nadeleinstiche sind notorisch schwer zu lokalisieren und zu katalogisieren. Bei Autopsien werden sie schon mal übersehen.« Strout spreizte ein letztes Mal die Hände. »Das kommt vor«, sagte er.
30
Jennifer Witt, die vom Justizwachtmeister hoch in den siebten Stock gebracht, dann von den beiden ihr zugeteilten Wärterinnen weiterbegleitet worden war, zog sich im Gemeinschaftsraum aus, hängte ihre schicken Sachen sorgsam auf die hölzernen Kleiderbügel und schaute zu, wie die Wärterinnen im Spind dafür Platz machten. Sie drehte sich um und blickte die Wand an, während sie die Damenunterwäsche ablegte, die Freeman für sie besorgt hatte. Sie zog sich einen Sport-BH über den Kopf und drehte sich wieder um, nahm den Plastikbeutel, den ihr Milner - eine deutlich übergewichtige Rothaarige mit einem süßen sommersprossigen Gesicht und einem Lächeln, das ein paar Zahnlücken zeigte - entgegenhielt und ließ die Unterwäsche Stück für Stück in den Sack fallen.
Die andere Wärterin, Montanez mit Namen, hielt ihr griesgrämig den roten Trainingsanzug vor die Nase. Durchs ganze Gebäude schallte ihnen aus den Gemeinschaftszellen das Ge- schepper von Gitterstäben und das mal lauter, mal leiser aus fallende Gekeife schriller Stimmen entgegen. Es war fast Abendessenszeit, draußen wurde es allmählich früher dunkel, es fehlten nur noch wenige Wochen bis zum Ende der Som merzeit.
»Wie läuft's unten?« fragte Milner.
Jennifer zuckte die Schulter. »Ein Haufen Männer, die ziemlich viel reden.«
»Echt wahr, oder?« Montanez machte den Anfang, und die drei Frauen bewegten sich auf die Tür zum Umkleideraum zu.
»Aber die Richterin ist eine Frau. Sie heißt Villars. Es sitzen auch ein paar Frauen in der Jury.«
Doch diese Überlegungen waren sowohl Milner als auch Montanez ziemlich egal. Die beiden Wärterinnen gingen in dem schummerigen und hallenden Flur jeweils rechts bzw. links von ihr, beim Gehen knarrten die Gürtel und die in den Schlaufen hängenden Gerätschaften. Hinter sich hörten sie die Schließerin rufen: »Ist das die Witt? Sie hat Besuch.«
Dr. Ken Lightner war bislang an jedem der vier Verhand lungstage zumindest einige Zeit im Gerichtssaal zugegen ge wesen. Da er kein Rechtsanwalt war, ließ man ihn nicht in das kleine Zimmer neben der Wachstation; genau wie Frannie hatte er sich statt dessen mit dem der breiteren Öffentlichkeit zugänglichen Arrangement begnügen müssen - unbequeme Holzstühle und Telefonapparate zu beiden Seiten der Plexiglasscheibe.
Er hatte bereits Platz genommen und wartete. Müde stützte er den Kopf in die Hand. Als sich Jennifer setzte, starrte er sie eine ganze Minute lang an. Zuletzt griff er zum Telefonhörer. »Wie geht's dir? Hältst du es durch?«
»Niemand schlägt mich mehr. Vielleicht glauben alle, daß ich gewinnen werde.« Sie erlaubte sich ein angespanntes Lächeln. »Allmählich fasse ich etwas Zutrauen zu Mr. Freeman .«
Lightner nickte. »Was sagt er?«
»Er legt sich nie fest. Er sagt, es wird dauern. Aber ich be komme mit, was er zu Mr. Hardy sagt, ich sehe die Reaktionen der Geschworenen. Er wirkt zuversichtlich.«
»Und was ist mit dir?«
»Du fehlst mir, Ken. Unsere Unterhaltungen fehlen mir. Alles. Die Leute hier ...« Es gab über sie nichts weiter zu sagen, sie lebten auf einem anderen Niveau. Sie unterbrach sich, schluckte. »Es ist so anders. Ich weiß nicht...«
Der Hörer fiel ihr beinahe aus der Hand.
»Was denn, Jen?«
Sie schluckte erneut, machte selbst durchs Plexiglas den
Weitere Kostenlose Bücher