Das Urteil
allzu lange, bis man sich wünscht, jemand anders wäre tot. Warum muß ausgerechnet ich es sein?
Ich wache ziemlich früh auf, und Ned liegt neben mir, bewegt sich nicht. Ich beobachte ihn lange Zeit und denke, hoffe, daß er tot ist. Ich zwicke ihn ins Bein, und er zeigt keine Reaktion. Dann schnarcht er oder niest oder sonst irgendwas. Aber die Idee bleibt haften, der Keim der Idee.
Ein paar Tage vergehen und allmählich verheilt wieder alles, sieht die Sache anders aus, wie es eben so geht. Kein Mensch will wirklich glauben, daß es keine Hoffnung gibt, stimmt's? Obwohl es im Grunde keine gibt.
Ich arbeite wieder, vertröste Harlan mit irgendeiner Entschuldigung, und plötzlich wird mir bewußt, daß ich Boots -Boots ist meine Katze - schon ein paar Tage nicht mehr zu Gesicht bekommen habe. Ich sitze in dem Moment bei Harlan am Empfang, und mit einemmal weiß ich Bescheid. Und dann weiß ich, weiß ich einfach den einzigen Ausweg, was ich tun muß.
Mach dir nichts vor, es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Ned kann Dinge spurlos verschwinden lassen. Er hatte es bewiesen. Ich war als nächste dran.
Ich arrangiere alles so, daß er denkt, wir wollen uns volldröhnen. Es tut mir leid, daß ich ihm solche Scherereien gemacht habe, ich werde wieder so lustig sein wie früher ...
Diesmal ist es einfach. Ich verpasse ihm die Spritze, stelle mich lange unter die heiße Dusche, fahre hinaus zum Strand und vergrabe das Zeug, fahre dann zu meinen Eltern zum Frühstück - nur ein kurzer Besuch, was ich damals immer wieder mal getan habe. Kaum daß ich nach Hause komme, rufe ich die Polizei an und sage, daß mein Mann einen Unfall gehabt hat.
Der winzige stickige Besucherraum stank nach Schweiß und feuchter Wolle.
Freeman saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Stuhl, den er in der Ecke gegenüber der Tür bis an die Wand zurückgeschoben hatte.
Hardys Mund war trocken, sein Rücken steif. Er hatte die letzte Viertelstunde nicht einen Muskel gerührt. Er merkte, daß er ihr jedes Wort glaubte, das sie gesagt hatte, mußte sich abmühen, alles im richtigen Licht zu sehen. »Da hätten Sie vermutlich auf Totschlag plädieren können«, sagte er, »und in dem Fall entfällt die Todesstrafe.«
Freeman sagte: »Das Verfahren ist niedergeschlagen worden. Dadurch entfällt ebenfalls die Todesstrafe.«
»Es ist mir egal, was das Gesetz sagt.« Jennifer schob sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich kannte ihn. Es gab keinen anderen Weg.«
»Sie hätten den Versuch unternehmen sollen, die Polizei einzuschalten. Die hätten etwas unternehmen können.« Hardy, der jetzt gegen sich selbst argumentierte, wußte, wie lahm das klang.
Jennifer erlaubte sich ein knappes Lächeln. »Aber nein. Kapieren Sie das nicht? Das Ganze ging schon zwei Jahre so, und sie hätten rein gar nichts unternehmen können, selbst wenn sie es gewollt hätten, selbst wenn sie mir geglaubt hätten.«
»Warum hätten sie Ihnen nicht geglaubt?«
»Weil es so nicht läuft. Sie sollten das doch wissen. Glauben Sie, das Gesetz ist dazu da, potentiellen Opfern zu helfen? Falsch. Was das Gesetz tut, es bestraft Leute, die bereits das Gesetz gebrochen haben. Bis jemand bereits verletzt oder tot ist, haben sie keinerlei Grund, sich ...«
»Aber Sie waren ja verletzt. Und Ned hatte gegen das Gesetz verstoßen, er wäre bestraft worden ...«
»Mein Gott, in Ihren Träumen vielleicht.« Jennifer sah Freeman an. »Ist der Kerl echt? Lebt er überhaupt in der Welt der Tatsachen?«
»Ich lebe in der Welt der Tatsachen, Jennifer, und Sie können nicht...«
»Ach? Also hören Sie mal, das hier ist die Welt der Tatsachen. Wenn ich Glück hab', kriegt Ned keine Kaution -schon da hakt's aus -, und er kriegt ein Jahr, wenn überhaupt, weil er nicht vorbestraft ist. In der Zwischenzeit hab' ich ein Jahr zur Verfügung, um umzuziehen, meinen Namen und mein Leben zu ändern. Dann - raten Sie mal - kommt Ned aus dem Knast und zieht los und schnappt mich, egal wo ich bin, und ich verschwinde genau wie Boots. Wie meine Katze. Muß ich das näher erläutern? Muß ich Ihnen ein Bild malen? Ich bin diejenige, deren Leben verhunzt ist, falls ich überhaupt am Leben bleibe.«
Hardy lehnte sich im Stuhl zurück und streckte sich, versuchte, den steifen Nacken loszuwerden. Im Zimmer der Wärterinnen war, wie durchs Fenster zu sehen war, soeben eine Frau für die Nachtschicht hereingekommen, die ihren Regenmantel ausschüttelte und auf einen der Haken neben der Tür hängte,
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