Das Urteil
Kopf, als bedaure er bereits jetzt, was er nun sagen wollte. »Mr. Freeman«, begann er, »ich war an besagtem Morgen in meiner Praxis, und ich kann das bezeugen lassen. Ich befürchte einfach, daß die Jury sich auf Jennifer konzentrieren wird, auf ihr mutmaßliches Motiv oder die Motive, auf die Tatsache, daß sie ihren Mann nicht mehr liebte, daß sie aus einer schrecklichen Ehe aussteigen wollte.« Lightner trank das halbe Bier in einem Zug aus.
»Mein Gott«, sagte er, »Sie sind doch der Anwalt . Glauben Sie denn, ich wollte, daß das hier passiert ist? Muß ich Ihnen erst eine Zeichnung anfertigen?«
Mit traurigen Augen drehte Freeman niedergeschlagen die leere Flasche in den Händen hin und her. »Das haben Sie soeben getan«, sagte er.
39
»Guten Morgen. Ich werde heute morgen mit meinem Eröff nungsplädoyer nicht allzuviel Zeit beanspruchen. Sie haben wahrscheinlich ohnehin das Gefühl, daß Sie mittlerweile lange genug hier herumsitzen. Ich möchte Sie zum einen nicht langweilen und zum anderen nicht Ihre Intelligenz in Frage stellen.
Aber ich denke sehr wohl, daß es hilfreich ist, noch einmal zu rekapitulieren, was hier vor Gericht geschehen ist, und zwar was das Beweismaterial angeht, denn in Prozessen geht es ja nun einmal um Beweismaterial. Belegt das Beweis material über jeden berechtigten Zweifel hinaus, daß Jennifer Witt ihren Mann und ihren Sohn umgebracht hat? Nun, wenn man sich die Beweislage ansieht, die wir ja jetzt voll ständig kennen, dann, meine Damen und Herren, lautet die Antwort Nein.
Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Das bislang bei gebrachte Beweismaterial beweist nicht, daß Jennifer Witt ihren Mann und ihren Sohn umgebracht hat, und das ist es aber, was es tun muß.«
Freeman sprach mit ein und derselben leisen, so wenig wie möglich aggressiven Stimme, blieb auf dem Fleck stehen, gestikulierte nur dann und wann mit den Händen, war offen bar zufrieden damit, daß seine Worte die Arbeit übernahmen. Er stand direkt vor dem Tisch, an dem Jennifer und Hardy saßen, und fixierte die Geschworenenbank. Er warf Richterin Villars noch nicht einmal einen kurzen Seitenblick zu, wandte sich nie an Powell und Morehouse am Tisch der Anklage.
Dieses Plädoyer war einzig und allein für die Jurymitglieder gedacht, und sein Auftritt galt ihnen.
»Das Beweismaterial muß beweisen, daß Jennifer Witt diese entsetzlichen Dinge getan hat. Es darf keine andere vernünftige Erklärung zulassen. Es reicht nicht aus zu sagen, also, vielleicht war sie ja wirklich dort und hat dies oder das getan . Sie müssen absolut davon überzeugt sein. Es darf keinerlei Zweifel geben.«
»Euer Ehren.« Dean Powell schien geradezu betrübt über die Notwendigkeit, Einspruch erheben zu müssen. Er gab deutlich zu erkennen, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, Mr. Freemans Rhythmus zu unterbrechen, aber leider blieb ihm keine andere Wahl. Er sprach mit äußerster Zurückhaltung. »Dies ist die Erörterung einer Rechtsfrage, kein Eröffnungsplädoyer.«
Überraschenderweise wies Villars Powells Einspruch ab. Hardy dachte, daß es das erste Mal in dem Prozeß war, daß Villars einen berechtigten Einwand ignorierte. Freeman befand sich jenseits des Erlaubten - das hier ging eindeutig über die Grenzen eines Eröffnungsplädoyers hinaus. Offensichtlich aber war es ein Thema, das der Richterin gefiel.
Aber Freeman hatte keinen Grund zur Schadenfreude. Er wußte das auch und nahm den Faden sofort wieder auf. »Und was müssen wir, die Verteidigung, beweisen? Müssen wir beweisen, daß Jennifer Witt sich nicht in ihrem Haus aufgehalten hat? Daß sie die Pistole nicht benutzt hat? Daß sie keinen Liebhaber hatte? Daß sie womöglich überhaupt nichts von der Versicherungspolice ihres Mannes wußte, geschweige denn von der Klausel, demzufolge sich die Summe im Falle eines gewaltsamen Todes verdoppelte? Die Antwort lautet, daß wir nichts von alldem beweisen müssen. Die Beweislast liegt bei der Anklagevertretung, und zwar einzig und allein bei der Anklagevertretung. Mr. Powell dort drüben« - und Freeman drehte sich ansatzweise um -, »seine Aufgabe ist es, zu beweisen, daß Jennifer diese Dinge getan hat, und wissen Sie was? Er hat es nicht getan.«
Hardy mußte Freeman einfach bewundern. Der Mann war eine Kämpfernatur. Freeman hob einen Finger. »Erstens: Bislang hat niemand mit Gewißheit sagen können, daß Jennifer im Haus gewesen ist, als die Schüsse abgefeuert wurden. Das ist ein grundlegendes
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