Das Urteil
Kleidung, die sie die ganze Zeit über getragen hatte, war sie jetzt mit einem braunen Jogginganzug und High-tech-Tennisschuhen bekleidet. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und Hardy fand, daß sie aussah wie eine Siebzehnjährige.
Als Villars auf der Richterbank erschien, bemerkte sie sofort die Veränderung und runzelte die Stirn. »Mr. Freeman, würden Sie bitte einmal herkommen?«
Hardy beobachtete, wie sein Partner mit der Richterin redete, nickte, gestikulierte. Die Stimmen wurden nicht laut, und eine Minute später war Freeman wieder am Tisch der Verteidigung und lächelte. »Was konnte sie schon machen?« sagte er.
Freeman rief Lisa Jennins auf, die andere Joggerin, die genau dieselben Sachen anhatte wie Jennifer. Die Zuschauer merkten, was Sache war, und Villars klopfte ein paarmal mit dem Hammer und rief zur Ruhe.
Lisa sah zwar nicht exakt so aus wie die Angeklagte, aber in den zueinander passenden Jogginganzügen und mit der gleichen Frisur - Freeman hatte Lisa dafür bezahlt, daß sie sich die Haare schneiden ließ - ließ sich die Ähnlichkeit beider nicht leugnen. Lisa war ein wenig dünner und drei oder vier Zentimeter größer, aber beide waren sie mittelgroße, attraktive blonde Frauen in den Zwanzigern.
Hardy fand, daß Freeman Lisa gar nicht erst befragen sollte. Er sollte nur Alvarez aufrufen und sehen, was dann passierte. Aber Freeman schaffte das ebensowenig, wie er mit dem Mund voller Reißnägel pfeifen konnte.
Obwohl Hardy Freeman gewarnt hatte - und zwar oft und nachdrücklich - daß Lisas Aussage von Powell zerpflückt und durch den Fleischwolf gedreht werden konnte, wollte der alte Fuchs sie dennoch der Jury präsentieren. »Das hat einfach den Klang der Wahrheit«, hatte er zu Hardy gesagt. »Warten Sie's nur ab.«
Und er hatte tatsächlich recht. Lisas Aussage an sich - daß sie am Haus stehengeblieben war, die Schüsse gehör t hatte, nach ungefähr einer Minute weitergelaufen war -, all das klang wahrhaftig.
Das Problem, wie Hardy wieder und wieder argumentiert hatte, war, daß sie, selbst wenn es tatsächlich so gewesen war, nicht beweisen konnten, daß es am 28. Dezember gewesen war.
Und Powell schien - was kein Wunder war - nicht geneigt zu sein, sich dieses Versäumnis entgehen zu lassen.
»Ms. Jennings, wie oft laufen sie den Olympia Way im Verlauf, sagen wir, eines Monats entlang?«
»Mehrmals wöchentlich, würde ich sagen.« Auch wenn sie Hardy gegenüber am Anfang, als er sie in die Pflicht zu nehmen versuchte, beträchtliche Widerspenstigkeit an den Tag gelegt hatte, machte Lisa jetzt den Eindruck einer kooperativen, sogar freundlichen Person. » Vielleicht ... fünfzehn-, zwanzigmal im Monat.«
»Und wie lange machen Sie das bereits?«
»Ein paar Jahre, glaub ich. Fast drei.«
»Also sind Sie an Mrs. Witts Haus vorbeigelaufen ... unge fähr zweihundertmal? Ungefähr so oft?«
» Ja. «
»Und führen Sie eine Art Tagebuch darüber, wo Sie an wel chen Tagen langgelaufen sind, welche Route Sie genommen haben?«
Lisa blickte zu Freeman hinüber, sah dann wieder Powell an. »Nein, ich laufe einfach.«
»Also wissen Sie nicht genau, wann Sie diese Schüsse am Olympia Way gehört haben, auf die sich Ihre Aussage von eben bezieht, nicht wahr?«
»Naja, ich habe sie nur einmal gehört,«
»Zwei Geräusche, die sich wie Schüsse anhörten?«
»Ja.«
Powell nickte, nahm sich Zeit. Er sah hinüber zur Jury, sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Ich verstehe. Und als Sie diese Schüsse hörten, haben Sie es der Polizei gemeldet?«
»Nein.« Lisa zuckte die Achseln, rutschte auf dem Stuhl hin und her.
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe nicht wirklich gedacht, daß es Schüsse waren.«
Powell riß vor Erstaunen die Augen weit auf. »Oh? Warum haben sie nicht gedacht, daß es welche seien?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich nehme an, damals dachte ich, es handle sich um Fehlzündungen oder so was Ähnliches.«
»Hätten es Fehlzündungen sein können?«
Freeman, der sie zu retten versuchte, stand auf und erhob Einspruch, aber noch bevor er Gründe anführen konnte, hatte Powell die Frage bereits zurückgezogen. Um sofort wieder darauf zurückzukommen. »Sie haben den Ausdruck damals be nutzt. Das war am 28. Dezember letzten Jahres, ist das richtig?«
Wieder sah Lisa zu Freeman hinüber. »Das habe ich nicht gesagt.«
»Nein, das haben Sie nicht. Deshalb habe ich ja auch danach gefragt.« Powell lächelte, ganz
Weitere Kostenlose Bücher