Das Urteil
der zuständige Inspector hatte eine lange Macht hinter sich, aber er war vom Polizeirevier Golden Gate Park; er kannte Hardy vom Shamrock, und beide mochten sich. Sie standen jetzt auf dem Flur vor Nancys Zimmer. Nancy hatte ein Beruhigungsmittel bekommen und würde eine ganze Weile für niemanden zu sprechen sein.
»Was ist passiert?«
Manion war ein drahtiger Bursche. Er war einen halben Kopf kleiner als Hardy und hatte ein pockennarbiges Gesicht, eine kosmetisch operierte Hasenscharte, die Tonsur eines Mönchs. Immer leicht gebückt, die Hände in den Hosen taschen und einen Kaugummi im Mund, redete er in schnellem Stakkato. »Der Kerl hat sie einmal zu oft geschlagen, vermute ich. Sie hat sich ein Messer geschnappt und zugesto chen. Viermal, glaube ich. Nein, fünfmal.«
»Wie schlimm?«
»Drei an den Armen. Durchschnittliche Schnittwunden, aber zwei Stiche in den Oberkörper. Vielleicht hat sie das Herz erwischt; als ich zuletzt nachfragte, waren sie sich nicht sicher. Der Typ hat eine Tonne Blut verloren. Sie hat uns angerufen, wissen Sie. Hinterher.«
»Wird man Anklage gegen sie erheben?«
Manion kaute auf seinem Kaugummi herum. »Keine Ah nung. Fragen Sie den Staatsanwalt. Ich bezweifle es. Weswe gen denn?«
»Mordversuch?«
Manion schnaubte verächtlich auf. »Nee, Scheiße, das war Notwehr. Sie sollten sie mal sehen. Der Dreckskerl soll verrecken. Wenn er's überlebt und wenn irgendwer wegen ir gendwas angeklagt wird, dann müßte er es sein.«
»Sean, haben Sie David Freeman angerufen?«
»Wen?«
»Nicht wichtig. Vielleicht hat sie es getan, bevor Sie dort aufgekreuzt sind.« Hardy zeigte hinter sich zur Zimmertür. *Sie schläft aber, was?«
Manion nickte. »Im Land der Träume. Probieren Sie's mal Segen Mittag.«
»Geht nicht«, sagte Hardy. »Ich bin bei Gericht.«
»Sie Glückspilz.« Der Inspector streckte die Arme aus. »Tja, so geht's zu. Sie ist heute abend auch noch hier. Sie geht nirgendwo hin, das kann ich Ihnen flüstern. Heute jedenfalls nickt*
»So schlimm?«
Manion nickte heftig. »Ziemlich übel. Aber na ja, sie lebt noch. Könnte schlimmer sein.«
Hardy wußte, daß er das Ganze ausgelöst hatte. Wenn er nicht auf die Idee gekommen wäre, wenn er nicht mit der Vorladung hingefahren wäre, wenn er Nancy nicht zu überreden versucht hätte, als Zeugin auszusagen ... Dann hatten sie und Phil Streit bekommen, und jetzt lagen sie beide im Krankenhaus.
Vor Schlafmangel hätte er eigentlich erschöpft sein müssen, aber als er um kurz nach acht das kleine Zimmer für Anwalts besprechungen im sechsten Stock betrat, war der Adrenalinschock noch nicht abgeflaut. Er fühlte sich, als hätte er zwei Liter Espresso getrunken.
Jennifer hatte sich noch nicht für die Verhandlung umgezogen. Sie wurde hereingeführt und trug ihren roten Trainingsanzug. »Also was raten Sie mir für heute?« fing sie an. Sie verhielt sich so, als verliere sie allmählich die Hoffnung, die sie in ihn gesetzt hatte.
Er erzählte es ihr.
Sie hatte in der Pose im Zimmer gestanden, die sie dort inzwischen üblicherweise einnahm - mit verschränkten Armen gegen die Tür gelehnt. Bevor Hardy mit seiner Geschichte halbwegs fertig war, setzte sie sich, wie betäubt.
»Jennifer?«
»Ich bin da.« Dann: »Was hat das zu bedeuten?«
»Ich schätze mal, es bedeutet, daß Ihre Mutter für Sie aussagen wollte und daß sie und Ihr Dad deswegen Streit bekamen.«
»Aber wieso sollte sie das riskieren? Sie kennt ihn doch ...«
»Weil sie Sie liebt, wie wär's damit?«
Jennifer starrte ihn wortlos an, der Mund klappte stumm auf und zu. Sie legte den Kopf auf die Arme und begann zu schluchzen.
Ein sehr unglücklicher Harlan Poole saß erneut im Zeugenstand. Der Zahnarzt schien im Laufe der letzten zwei Wochen, seit er das letzte Mal hier ausgesagt hatte, gut sieben Kilo abgenommen zu haben. Diesmal würde er nichts berichten, was er vom Hörensagen wußte.
Dean Powell kam sofort zur Sache. Die Wahlen standen vor der Tür, und der Kandidat hatte offenbar seinen Rhythmus gefunden. »Dr. Poole, Sie haben ausgesagt, daß Sie nach dem Tod von Jennifers erstem Ehemann zu dem Entschluß kamen, die Sache mit ihr zu beenden. Ist das richtig?«
Poole, der bereits schwitzte, bevor er noch richtig begonnen hatte, stimmte zu.
»Können Sie uns sagen, was dann zwischen Ihnen und Jennifer geschah?«
»Wir ... ich habe einfach versucht, Distanz zu ihr zu halten.«
»Obwohl sie jeden Tag mit Ihnen zusammengearbeitet hat,
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