Das Urteil
Interesse?«
Hardy verlor nun seinerseits ein wenig die Geduld. »Es ist eine Frage der Tatsachen, Herr Doktor. Ich würde dasselbe raten, wenn ich der Anwalt wäre, der Jennifer im ersten Verfahren vertritt. Ich fürchte, sie wird keine Haftentlassung auf Kaution bekommen. Sie kommt nicht raus.«
Lightner schüttelte den Kopf. »Wenn Sie im Gefängnis bleibt, ist es meiner Ansicht nach nicht unwahrscheinlich, daß sie sich umbringt.«
»Sie unterhalten sich mit der falschen Person. Sie sollten mit dem Richter sprechen ... oder mit dem Gesetzgeber. Außerdem meine ich, daß Sie ein bißchen übertreiben. Das Gefängnis ist kein Zuckerlecken, keine Frage, aber ich habe heute früh jedenfalls keinerlei Anzeichen für eine suizidale Depression bemerkt, und ich war zwei Stunden mit ihr zusammen.«
»Würden Sie diese Anzeichen denn erkennen, wenn Sie sie sähen, Mr. Hardy?«
Hardy wußte, daß der andere in diesem Punkt recht hatte, aber der Mann ging ihm auf die Nerven. »Ich denke schon. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen ...«
»Nein, hören Sie zu, hören Sie bitte zu.«
Hardy wartete.
»Tut mir leid. Vielleicht haben wir das Ganze ungeschickt aufgezäumt, aber irgendwer muß begreifen, was hier wirklich abläuft«, sagte Lightner.
»Und Sie wissen es?«
»Ich weiß es. Ich behandle diese Frau seit vier Jahren. Ich mußte während einiger Krisen Antidepressiva verschreiben. Jennifer leidet an einer klinischen Depression.«
Hardy hatte einen offensichtlichen, aber dennoch genialen Einfall. »Nun, Herr Doktor, wenn sie seit vier Jahren schon depressiv ist, cfann ist es nicht das Gefängnis, das ihr so zusetzt.« Hardy blickte auf die Uhr. »Jetzt muß ich aber wirklich gehen. Tut mir leid.«
Lightner faßte ihn am Arm und holte tief Luft, als müsse er z u einem sehr wichtigen Entschluß kommen. »Nehmen wir einmal an«, sagte er mit nunmehr leiser Stimme, »daß sie die Tat vielleicht wirklich begangen hat. Wollen Sie dann nicht bissen, wieso? Darum geht es mir hier.«
»Sie sagten, daß es Ihnen selbst aufgefallen ist... in der einen Minute ist sie so lebhaft, beinahe mutwillig, in der nächsten ^erhält sie sich wie ein geprügeltes Opfer - mit gebeugtem Kopf, unbeteiligt, völlig verloren. Sie hat keinen Appetit, unterliegt extremen Stimmungswandlungen, von lethargisch bis hyperaktiv. Alpträume lassen sie nachts nicht zur Ruhe kommen. All das sind klassische Anzeichen einer klinischen Depression.«
Hardy war mit Lightner losgegangen, um den Schlüssel auszulösen - der Grund, weshalb er überhaupt hierhergekommen war -, und dann waren sie gemeinsam hinunter in den zweiten Stock gefahren, wo die Büros der Staatsanwaltschaft lagen. Hardy, der früher in dem Gebäude gearbeitet hatte, kannte einige der nichtöffentlichen Räume, und jetzt brachte er Lightner in den Raum der Protokollführer, der sich gleich neben den Aufzügen befand.
Hier war es am Donnerstagnachmittag friedlich und still. Keine Protokollführer, auch sonst niemand. Ein gemütliches Durcheinander zwischen ausgemusterten, neuer Verwendung zugeführten Schulbänken und harten, vernarbten Bibliothekstischen.
Hardys Hauptinteresse bezog sich aber nicht auf Lightners Diagnose von Jennifer. »Das heißt aber noch nicht, daß sie jemanden umgebracht hat.«
Lightner saß vornübergebeugt auf einem der Tische neben dem Fenster mit den Jalousien. »Nein, das heißt es nicht automatisch, aber ich sage Ihnen jetzt etwas ... ich fürchte, daß sie ihren Mann erschossen hat.«
»Sind Sie sicher? Hat sie es Ihnen gesagt?«
»Nein, aber ich weiß es.«
»Und Ihr Sohn?«
»Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Es könnte ein Irrtum gewesen sein. Sie hat vielleicht gedacht, es wäre Larry.«
»Ein siebenjähriger Junge? Ihr eigener Sohn?«
»Ich habe ja gesagt, daß ich keine Ahnung habe, wie das pas siert ist. Der Junge kam vielleicht zwischen die beiden, die Waffe ging los, ich weiß nicht, irgendein schrecklicher Unfall.«
Hardy gab es nur ungern zu und hatte diesen Schluß jedesmal weit von sich gewiesen, sooft er vorher aufgetaucht war, aber Lightner hatte recht. Jeden Tag kamen irgendwelche Leute versehentlich im Umgang mit Waffen ums Leben. Sobald eine Schußwaffe im Spiel war, gab es die Möglichkeit eines Unfalls. Hardy konnte sich ohne weiteres selbst ein halbes Dutzend Szenarios ausdenken, die zum Tod von Matt geführt haben könnten.
»Nur, daß sie es abstreitet«, sagte Hardy. »Aber, rein interessehalber,
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