Das Urteil
spielt keine Rolle«, sagte Freeman. »Nicht jetzt.« Aber Hardy hatte inzwischen genug von Freemans »professioneller Einstellung«. Er fing an, sich auf die Fakten einzulassen, auf Glauben oder Zweifel, auf seine eigene Motivation und auf Jennifers Lebensgeschichte. Er knallte die flache Hand auf die Tischfläche und sprach lauter. »Verdammt noch mal, David, für mich spielt es eine Rolle!« Er wandte sich wieder an seine Mandantin. »Also welche Version stimmt jetzt, Jennifer? Und welche auch immer es ist, lassen Sie uns dabei bleiben.«
Jennifer ließ den Kopf für einen Moment oder zwei hängen und hob dann die Augen. »Vielleicht glaube ich nicht, daß ich gewinnen kann. Wäre das kein guter Grund, um mich schuldig zu bekennen?«
Freeman sagte »ja« im selben Augenblick, als Hardy erwiderte: »Nicht, wenn Sie es nicht getan haben.«
»Nun, ich habe es nicht getan.«
Hardy richtete sich auf. »Nun gut.«
Und als ob sie das längst schon beschlossen hätten, klappte Freeman seine Aktenmappe auf und holte Papier heraus. »In Ordnung, Jennifer, damit sind wir im Geschäft.«
10
Hardy saß bei Lou dem Griechen und trank seinen Kaffee aus, der jetzt sein ganzes Mittagessen sein würde, nachdem er längst die Hoffnung aufgegeben hatte, daß das, was er bestellt hatte, sich doch noch als eßbar entpuppen würde. Lous Frau war Chinesin, und sie übernahm die Küche - manches davon köstlich, alles einzigartig -, aber das heutige Tagesgericht von Weinblättern süßsauer war echt nicht das Wahre.
Im Verlauf eines beinahe zweistündigen Gesprächs mit Freeman und ihm war Jennifer hart geblieben - sie war unschuldig. Jennifer würde sich nicht schuldig bekennen, selbst wenn es eine mögliche Strategie war. Was auf gewisse Weise gut war. Zumindest schaltete es alle Zweideutigkeit aus. Jennifer trug ihren Anwälten die klassische passive Verteidigung auf - bei jeder Wendung des Geschehens mußten sie aufzeigen, wie schwach die Argumente des Anklägers ausfielen, dem schließlich die Beweislast zukam; und Freemans Standpunkt würde sein, daß die Anklagevertretung ihre Beweispflicht nicht erfüllt hatte. Ende.
Außer daß in Wirklichkeit natürlich nichts auf der Welt derart simpel war. Wie sowohl Hardy als auch Freeman Jenni fer klarzumachen suchten, war es so, daß die Argumente der Anklage auf den ersten Blick so schwach nicht ausfielen. Die Staatsanwaltschaft verfügte über Beweismittel, über ein mutmaßliches Motiv, sogar über Augenzeugen. Kein Mensch hatte es darauf angelegt, Jennifer Witt an den Kragen zu gehen - die Beweislage hatte die Grand Jury überzeugt, Anklage z u erheben, und sie würde vielleicht eine Jury überzeugen, Jennifer schuldig zu sprechen.
Die Anklage wegen Mordes an ihrem ersten Ehemann Ned fachte alles noch viel schlimmer. Das Beweismaterial mochte älter sein, doch es würde alles andere als ein Kinderspiel sein, den Faktor der zufälligen Übereinstimmung, falls man es so nennen konnte, geschweige denn die Tatsache, daß in beiden Fällen eine beträchtliche Versicherungssumme im Spiel war, zu entkräften.
Gleichzeitig verhalf Jennifers Position allerdings Freeman zu einer Strategie und Hardy zu einer konkreten Richtung für sein weiteres Vorgehen. Angesichts der Forderungen ihrer Mandantin gab es nur einen Weg, altbewährt und gut, den sie einschlagen konnten. Sie mußten die Löcher finden, wenn schon nicht in den Fakten, dann in den Interpretationen, die dazu vorgebracht wurden.
Die Nebel hatten sich zwar gelichtet, dafür war der Wind vom Meer jetzt kräftig, damit San Francisco gar nicht erst Gefahr lief, in sonniger Wärme zu schmoren. Hardy stand im vierten Stock des dem Gerichtsgebäude vorgelagerten Treppenhauses und hörte zu, wie die Böen durch den Rohbau pfiffen, der eines Tages das neue Gefängnis gleich gegenüber sein würde.
Abe Glitsky machte die Tür auf und trat nach draußen. Papier flatterte hoch, Staub wirbelte im Kreis. Glitsky besah sich die Szene. »Ich habe ein hübsches Büro keine dreißig Meter von hier, weißt du noch ?«
»Powell sitzt dort drin.«
Glitsky nickte. »Stimmt genau. Er arbeitet hier in diesem Gebäude. Was du, wie ich hinzufügen darf, nicht tust. Was genau machen wir hier eigentlich, Diz?«
»Wir haben ein geheimes Treffen, Abe. Ich hab mich ge fragt, ob du nicht Lust hast, mit mir eine kleine Spazierfahrt zu unternehmen.«
Glitsky hatte die Hände in den Taschen seines Parka stecken. Er schürzte die Lippen, und die Narbe, die
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