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Das Urteil

Das Urteil

Titel: Das Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John T. Lescroart
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ihr Leben zu retten, stimmt sie dem nicht zu?«
    »Sie schämt sich.«
    Eine Sekunde hatte Hardy den Eindruck, er hätte falsch gehört. »Wie bitte?«
    »Sie schämt sich. Sie will nicht, daß irgendwer weiß, daß sie die Sorte Mensch ist, die damit leben kann, daß man sie mißhandelt. Warum ist sie nicht einfach weggelaufen?«
    »Genau.«
    Jetzt beugte sich Lightner mit Nachdruck vor. »Aber begreifen Sie das nicht? Das ist ja das Problem. Sie können nicht weglaufen! Ich weiß, das mag Ihnen vielleicht wie Soziologengewäsch vorkommen, aber in manchen Kulturen ist es gesellschaftlich akzeptabler als in anderen, solche Mißhandlungen durch den Ehemann zu dulden, jedenfalls ist es das nicht bei Weißen der Oberschicht in unserer Kultur. Und jetzt gehört sie selbst zur Oberschicht. Sie hat sich hochgearbeitet u nd will nicht wieder zurück nach unten.«
    »Was, wenn sie verurteilt wird? Was bleibt ihr dann?«
    »Dann bleibt ihr immer noch ihre Selbstachtung.«
    »Und Sie wollen mir erzählen, daß ist wichtiger als ihr Leben?«
    »Ich glaube nicht, daß sie sich das jemals so richtig vor Augen gehalten hat.«
    Hardy begriff, daß Lightner recht haben konnte. Er war derart hinter das winzige Pult eingepfercht, daß ihm die Sitzhaltung allmählich auf die Nerven ging. Er zwängte sich aus der Bank und stellte sich hin.
    »Also will Jennifer im wesentlichen deshalb, weil sie sich schämt, nicht zugeben, daß sie geprügelt... mißhandelt wor den ist.«
    »Das stimmt. Sich schämen ist vielleicht ein zu schwaches Wort. Gedemütigt trifft es besser, gedemütigt, daß sie mißhandelt , b einahe rituell verprüge lt worden ist und sie es sich hat gefallen lassen, so unfaßbar das auch erscheinen mag.« Lightner glitt vom Tisch herunter.
    Hardy rieb sich die Schulter. »Ich will Sie ja nicht beleidi gen, Herr Doktor, aber ist manches davon nicht Psychoge laber? Ich will damit sagen, auf wie viele Ihrer Schlußfolge rungen kann ich mich denn verlassen, immer angenommen, daß ich unabhängig von Ihnen einige Tatsachen herausfinden kann?«
    Lightner schien nicht beleidigt zu sein. Er nickte. Vielleicht dachte er, daß es eine gute Frage war. »Auf alle, würde ich sagen.«

11
    Im schwindenden Tageslicht war das Haus der Witts eindrucksvoll. Am Abend zuvor, als Hardy und Frannie vorbeigefahren waren, hatte Olympia Way, hoch oben auf den Twin Peaks, den Eindruck einer gewissen Gediegenheit vermittelt. Der Großteil der Straße grenzte an den Spielplatz von Mid-town Terrace. Es war ruhig gewesen, beinahe gespenstisch. Straßenlaternen, die tatsächlich funktionierten, warfen ihr Licht durch das zarte Laub des eben erst angebrochenen Frühlings auf die Bäume, die über die Straße hingen. Die Hecken schienen frisch gestutzt und ausgewachsen zu sein.
    Im Sonnenschein war das Gefühl, daß man sich in einer geschützten Enklave befand, sogar noch ausgeprägter. Hardy stieg aus seinem Auto aus und betrachtete von der Straße aus, von Süden her, das Haus Jennifers, das nur zwei Grundstück entfernt vom Park lag. Im Westen glitzerte der Pazifik, und ein Stück weiter nördlich reckte der Sutro Tower die rostigen Arme in den Himmel. Hardy dachte bei sich, daß einige der zwei- oder dreistöckigen Häuser ohne weiteres auf der Em-bassy Row stehen könnten - majestätisch und mit schön angelegten Gärten waren dies die Häuser von Leuten, denen dreihunderttausend Dollar nicht weiter fehlen mochten, wenn sie nur langsam genug verschwanden.
    Die Hecke der Witts war nicht so hoch wie manche der anderen, obwohl sie ebenso sorgsam gepflegt war wie alle übrigen. Ein weißgestrichener Lattenzaun bildete die äußere Begrenzung. Das Tor im Zaun war zu, aber die Hecke bildete jeweils einen Winkel von neunzig Grad und verlief dann parallel zu beiden Seiten des kerzengeraden Pfads aus Ziegelsteinen, der zur Haustür führte.
    Hardy mußte sich in Erinnerung rufen, daß Jennifer noch bis vor zwei Tagen hier gewohnt hatte, kam und ging und allem Anschein nach keine Ahnung von der bevorstehenden Ent scheidung der Grand Jury hatte, daß es genügend Beweismate rial gab, um Jennifer wegen Mordes anzuklagen. Es war ein be unruhigender Gedanke.
    Aber nicht so beunruhigend wie der Moment, als er den Schlüssel herumdrehte. Ein Hund irgendwo in der Nähe bellte und hörte nicht wieder auf zu bellen. Hardy blieb stehen und Wartete darauf, daß der Besitzer kommen und den Hund beruhigen würde, nachsähe, was der Grund der Aufregung war. Das passierte

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