Das Urteil
Freeman und Hardy zunehmend fest, daß man eine Menge seiner Rechte über Bord warf, wenn man aus dem Gefängnis ausbrach. Freeman war mitgeteilt worden, daß es »aufgrund bürokratischer Komplikationen« bezüglich der Auslieferung noch eine Woche dauere, ehe man Jennifer einen Bescheid über die vorläufige Festlegung des Prozeßtermins geben könne.
Das schöne Wetter hielt an, und die Klimaanlage in dem Verwaltungsgebäude sorgte für angenehme Luft. Hardy war von dem ganzen Laden beeindruckt. Das Bild, das er sich von der Welt der Gesundheitsfürsorge - besonders hier in der Stadt - machte, sah düster aus. Anonyme Ärzte und Krankenschwestern, die sich in womöglich antiseptischer, aber jedenfalls unpersönlicher Umgebung um Leute kümmerten, die sie nicht kannten.
Das Empfangsbüro der Yerba Buena Medical Group war rundum mit grün getönten Fenstern ausgestattet. Weiche Kissen lagen auf Sofas mit farbenbuntem Stoffbezug - Wirbel verschiedener Töne von Gelb und Orange und Rot und Blau. Ein Berberteppich - und nicht die allgegenwärtigen, allmählich gelbstichig werdenden Bodenfliesen, mit denen Hardy stets rechnete - dämpfte die Schritte, als Hardy zum Empfangstisch hinüberging. Hardy hatte keinen Termin und mußte also warten, aber Mr. Singh würde sein Bestes tun, um in Kürze mit ihm zu sprechen.
Erneut Sports Illustrated, dasselbe Heft, das Powell in seinem Büro gehabt hatte. Vergiß den 11. Juli - heute, am 12. Juli, war sein Glückstag. Hardy überlegte schon, ob er sich einen zusätzlichen Lottoschein kaufen sollte.
Ali Singh hatte Hardys anfängliche Fragen überaus sachkundig beantwortet, hielt jedoch die winzigen Hände auf seinem leeren Schreibtisch verschränkt, als würde dies verhindern, daß er mit den Fingern spielte oder einen Bleistift drehte oder sonstwie seine Nervosität verriet. Er trug ein weißes Hemd mit Button-down-Kragen, eine schmale braune Krawatte, ein neues graublaues Sportsakko und nickte in einer Tour zuvorkommend. »Natürlich war die Polizei bereits hier, wissen Sie. Sie haben mir alle diese Fragen gestellt.« Hardy beugte sich vor. »Ich habe mir alles angesehen, was die Polizei zu den Akten genommen hat, Mr. Singh - Dr. Witts Praxisunterlagen, die Befragungen. Ich interessiere mich mehr für das Persönliche, dafür, wie er sich mit den anderen Ärzten verstand, mit den Schwestern, solche Sachen.«
»Nun, das ist... ich weiß nicht. Ich habe Dr. Witt persönlich nicht wirklich gekannt, wie man so sagt. Wissen Sie, wir haben hier eine Menge Ärzte. Sie arbeiten nicht allzuoft zusammen. Es ist nicht wie in einer Klinik der Kaiser-Gruppe, wie Sie selbst sehen können.«
»Also haben Sie ihn überhaupt nicht gekannt?«
»Nun ja, selbstverständlich haben wir uns über Verwaltungs sachen unterhalten, wissen Sie, über sein Praxispersonal und so weiter. Aber er hatte seine Arbeit. Ich habe meine Arbeit.« Singh zog die Augenbrauen in die Höhe, löste die Hände für einen Sekundenbruchteil, verschränkte sie dann wieder.
»Aber keine Schwierigkeiten?«
Singh lächelte. »Manchmal gibt es mit jedermann Schwierigkeiten. Ärzte haben ausgeprägte Egos, wissen Sie. Sie wollen alles auf eine einzige Weise haben, nämlich auf ihre Weise, und ich muß versuchen zu vereinheitlichen, also gibt es natürlich bisweilen Konflikte. Aber nichts besonders Ernstes.«
»Mit Dr. Witt?«
»Ich mochte Dr. Witt. Gelegentlich haben wir uns über Kostenfragen gestritten, darüber, wie wir bestimmte Sachen handhabten.«
»Und wie haben Sie diese Sachen gehandhabt? Inwieweit hat es ihn mehr tangiert als alle anderen?«
»Das hat es nicht. Das war stets meine Rede. Aber die Gruppe ...«, er machte eine ausgreifende Geste, die den ganzen Gebäudekomplex einbegriff, »die Gruppe hatte Pläne, hat immer noch Pläne. Wissen Sie, uns stehen hier schöne Gebäude zur Verfügung, eine angenehme Umgebung, würden Sie nicht auch sagen?«
Hardy nickte.
»Und das ist kein Zufall, wissen Sie. Es ist die erklärte Geschäftsstrategie der Gruppe, des Aufsichtsrats.«
»Ein ansprechenderes Umfeld zu schaffen?«
»Stimmt genau, sehen Sie. Aber dies hier - die Landschaftsgestaltung, das Mobiliar, selbst die Miete hier -, dies zieht Geld aus dem Grundkapital ab, und ...«
»Und Dr. Witt war der Ansicht, daß dieses Geld an die Ärzte ausgeschüttet werden sollte?«
Jetzt strahlte Mr. Singh, weil Hardy begriffen hatte. »Ach, Sie verstehen es. Stimmt genau, das stimmt genau.« Mr. Singh löste die
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