Das Urteil
uns?«
Hardys Antwort ging glatt durch - Glitsky war nicht in Ermittlungsstimmung, dann nämlich bekam er nur sehr wenig nicht mit. »Ich muß einen Besuch bei einem Ehepaar machen wegen einer Schußwaffe, die sie haben rumliegen lassen, damit ihr Junge sie finden und damit herumspielen konnte.« Er preßte die Lippen zusammen, daß seine Narbe grellweiß hervortrat. Er brauchte nichts weiter zu sagen - Abe war bei der Mordkommission, und das wiederum hieß, das irgendwer nicht mehr am Leben war. »Es ist hier in der Gegend, und da hab ich mir gedacht, ich schau mal vorbei und bring etwas Abwechslung in euren Vormittag. Vertrittst du wieder Jennifer Witt?«
Frannie und die beiden Männer unterhielten sich zwanzig Minuten, während Glitsky seinen Tee trank, Hardy und Frannie jeweils noch eine Tasse Kaffee leerten. Hardy ließ kein Wort von der dreiminütigen Zeitdifferenz zwischen dem Geldautomaten und der Zeitansage des Notrufs verlauten. Denn inzwischen war er davon überzeugt, daß es sich dabei um ein Beweisstück in einem Mordfall handelte, und wenn er zu erkennen gab, daß es zu einem Teil der Argumentation der Verteidigung würde, wäre Abe, der Polizist, verpflichtet, es der Staatsanwaltschaft zu melden.
»Aber wer sind Sie?« Jennifer in ihrem roten Trainingsanzug schaute durch das Plexiglasfenster im öffentlichen Besuchsraum des Untersuchungsgefängnisses für Frauen.
Frannie war sich ihrer Sache nicht mehr sicher. Die Frau ihr gegenüber stellte jetzt im Augenblick fraglos für niemanden eine Bedrohung dar. Nahezu magersüchtig, mit Blutergüssen im Gesicht, das Haar in unterschiedlicher Länge abgesäbelt, die Augen unruhig. Das war eine Frau, dachte Frannie, die keiner Menschenseele auch nur ein Quentchen Vertrauen entgegenbringt.
»Ich ...« Frannie, die einen trockenen Mund hatte, versuchte zu schlucken. »Ich gehöre zu Mr. Hardy.«
»Ich weiß. Das haben Sie bereits gesagt. Deshalb bin ich ja gekommen. Aber wieso sitzen wir dann nicht im Besucherzimmer?«
Frannie wußte es nicht - sie hatte angenommen, dies wäre das Besucherzimmer. Sie wußte nicht, daß dieser lange Tresen mit den Klappstühlen, den Fenstern aus Plexiglas und den Telephonen, durch die man sich unterhielt, nicht das Zimmer war, wo sich Hardy und Jennifer miteinander besprachen. »Ich ... ich schätze mal, es liegt einfach daran, daß ich keine Anwältin bin, also ist das Ganze hier nicht dienstlich oder so.« Plötzlich begriff sie, warum Hardy nicht mitgekommen war, um die beiden einander vorzustellen. Was hätte er schon sagen können? »Hallo, meine Frau hier wollte mal vorbeikommen und Sie begutachten, damit sie beruhigt ist. Sie hat sich ein bißchen Sorgen gemacht, daß Sie eines Tages aus dem Gefängnis herauskommen und mich umzubringen versuchen.«
Sie kam sich wie eine Idiotin vor und war wütend.
Dismas hatte sich auf ihre dumme Idee eingelassen, um ihr eine Lektion zu verpassen - eine grausame Lektion, die er ihr hätte ausreden können.
Doch dann wurde ihr klar, daß sie es nicht zugelassen hätte. Sie konnte so eisern und dickköpfig sein wie nur sonst wer. Sie hatte den Entschluß gefaßt, daß sie Jennifer kennenlernen wollte, und davon wollte sie weiß Gott nicht abrücken - das war ihr Standpunkt gewesen, und jetzt mußte sie die Suppe eben auslöffeln.
Jennifer wartete ab, schaute Frannie jetzt unverwandt an. Verquälte Augen. Frannie dachte mit einemmal an Jennifers Sohn Matt. Was, wenn diese Frau niemanden umgebracht hatte? Erst hatte sie ihren Sohn verloren? Und dann hatte man sie im Gefängnis in Costa Rica geschlagen und vergewaltigt?
»Ich weiß, dies hier ist unüblich«, sagte sie. »Ich bin Mr. Hardys Frau. Frannie. Er hat mir erzählt, was Ihnen widerfahren ist, und ich habe mich einfach gefragt, ob ich irgend etwas tun könnte, um Ihnen die Sache leichter zu machen.«
Das städtische Krankenhaus Mission Hills lag etwa auf halbem Wege zwischen dem Justizpalast und dem Gebäudekomplex der Yerba Buena Medical Group an der Mission Street, aber nicht besonders nahe an irgendwelchen Hügeln.
Hardy blieb auf der anderen Seite der vielbefahrenen Straße stehen und sah sich beinahe zehn Minuten lang das Geschehen an. Nach den Plakaten zu urteilen, die die Leute herumschleppten, gab es zwei unterschiedliche Gruppen von Demonstranten und Streikposten - die eine Gruppe protestierte gegen die Abtreibungen, die in der Klinik vorgenommen wurden, und die andere setzte sich aus Angestellten im öffentlichen
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