Das Urzeit-Monstrum
Natur erstarrt wäre. Die Bäume und Sträucherten. Ich stand auf, zog mir die Jacke über, band den Schal fest und holte den kleinen Koffer aus dem Gepäcknetz. An der rechten Seite sah ich den Bahnsteig entlanggleiten.
Ich sah die Trollys und auch die Bänke für die Reisenden. Dahinter, durch eine Straße getrennt, grüßten die kantigen Bauten der Hochhäuser, für die Westerland mehr berüchtigt als berühmt war.
Der Zug stoppte. Die Reisenden verließen ihn. Ich stieg als einer der ersten aus. Die kalte Luft packte mich wie ein Umhang. Der Wind schien auf meiner Haut zu kleben.
»Willkommen auf der Insel«, sagte jemand hinter mir. Ich brauchte mich nicht erst umzudrehen, denn die Stimme mit dem unverwechselbaren sächsischen Akzent kannte ich.
»Hallo, Harry!« Ich streckte meine rechte Hand aus, die von Harry Stahl geschüttelt wurde.
Er lachte mich an. »Pünktlich, John, alle Achtung.«
»Es lag nicht an mir. Der Flug war gut, die Fahrt von Hamburg hierher auch, was willst du mehr?«
»Einen Glühwein.«
»Gegen die Kälte?«
»Auch.«
»Einverstanden. Wo sollen wir ihn trinken?«
»Wir gehen kurz nach Westerland rein. Ich habe in der Nähe eines Cafés auch meinen Wagen abgestellt. Außerdem gibt es einige Neuigkeiten, die dich bestimmt interessieren werden.«
Am Unterton der Stimme hatte ich bereits gehört, daß diese Neuigkeiten nicht unbedingt positiver Art waren. Ich hielt mich mit Fragen zurück, als wir durch die düster wirkende Bahnhofshalle gingen, den Vorplatz umrundeten und sehr bald die Wilhelmstraße erreicht hatten. Sie war für Westerland das, was für Berlin der Kudamm war, rechts und links gespickt mit Geschäften aller Art. Vom Billigladen bis zum Juwelier war hier alles vertreten, wie auch in den parallel verlaufenden Nebenstraßen.
Die Straße selbst war eine Sackgasse; sie endete am Strand, wo auch die hellen Fahnenmasten standen. Im oberen Drittel der Straße betraten wir das Café, in dem es wunderbar warm war, es etwas zu essen und zu trinken gab und man auf Barhockern seinen Platz einnehmen konnte, die vor ovalen und runden, schwarzen Tischen standen. Die Mahlzeiten mußte man sich an der Theke holen, und ich entschied mich nicht nur für einen Glühwein, sondern auch für eine Portion Grünkohl mit einer Mettwurst und einem Stück Kasseler.
Da um diese Zeit nicht viel Betrieb herrschte, wurden wir rasch bedient.
»Du kannst ruhig erzählen, während ich esse«, sagte ich. »Es wird mir schon den Appetit nicht verderben.«
»Vielleicht aber die Laune.«
»Das ist egal.« Ich schnitt in die Wurst, probierte sie, war zufrieden, auch der Grünkohl schmeckte ausgezeichnet. Zwischendurch trank ich von meinem Glühwein und hörte zu, was mir Freund Harry berichtete.
Sensibleren Menschen hätte es womöglich den Appetit verdorben, ich allerdings hörte mit großer Spannung zu und nickte nur einige Male, zum Zeichen, daß ich auch alles mitbekommen hatte. Als ich das Besteck auf den leeren Teller legte, hatte Harry seinen Bericht gerade beendet.
»Jetzt weißt du alles, John.«
Ich wischte mir mit der Serviette über die Lippen. »Aber es ist nicht genug, denke ich.«
»Genau. Den Rest müssen wir herausfinden.«
Oft tat ich es zwar nicht, aber in diesem Fall wollte ich eine Zigarette rauchen, was Harry Stahl in leichtes Erstaunen versetzte, denn das kannte er von mir nicht.
»Du rauchst?«
»Ab und zu.«
»Na ja, dein Problem. Aber weiter. Zu welch einem Schluß bist du gekommen, John?«
»Zum selben wie du.«
»Und der wäre?«
Ich blies den Rauch durch die Nase aus und lächelte dabei. »Daß es zwischen diesem Maler Boris Beckmann und dem Monster einen Zusammenhang geben muß.«
»Das sehe ich auch so.«
Ich stäubte Asche ab. »Es ist doch so, Harry. Erinnere dich an die Szene, die du vom Fenster des Hauses gesehen hast. Hattest du da den Eindruck, als befände sich dieser Mann in einer großen Gefahr?«
»Hm. Gut gefragt.«
»Auch gut geantwortet?«
»Nein, das ist nicht möglich. Eigentlich ja und eigentlich nicht. Es sah so aus, als hätte Beckmanns letztes Stündlein geschlagen, aber ich würde dies nicht unterschreiben. Überspitzt gesagt, hat ihn dieses krakenhafte Urzeit-Monstrum wohl eher besucht und dabei einen sehr direkten und intensiven Kontakt mit ihm aufgenommen. Es läßt für mich nur den Schluß zu, daß beide zusammenarbeiten.«
»Sehr gut.«
»Was willst du noch wissen?«
»Mehr über den Toten kannst du nicht sagen?«
»Nein,
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