Das Urzeit-Monstrum
sie nach unten zu zerren, um sehr bald beide Augen durch diesen breiten Lappen zu verdecken.
Alles an ihm veränderte sich. Nicht nur das Gesicht, auch der Körper war davon nicht verschont geblieben, denn er merkte, wie er immer weiter aufquoll.
Ein anderer an Beckmanns Stelle hätte vielleicht kehrtgemacht und wäre schreiend davongelaufen.
Das tat Boris nicht. Er blieb vor dem Spiegel stehen, denn er wußte, daß er seinem Schicksal nicht entrinnen konnte. Es war unmittelbar mit dem der anderen Kreatur verbunden, auch wenn er die genauen Linien noch nicht kannte.
Sehr bedächtig sah es aus, als er seinen rechten Arm anhob. Er brachte die geschlossene Hand bis in die Höhe der Stirn, schaute gegen sie und streckte dann nur den langen Mittelfinger vor. Danach bewegte er auch die Hand, zielte dabei mit der Spitze des Fingers auf seine Stirn und wartete die Berührung ab.
Boris spürte sie. Allerdings nicht sofort. Es kam ihm vor, als hätte er zunächst noch ein Hindernis zu überwinden gehabt, bis es zum direkten Kontakt gekommen war.
Und dieses Hindernis nahm er optisch wahr, als er die Hand wieder zurückzog. Da nämlich blieb ein dünner, gelblichgrüner Schleimfaden hängen. Wie ein Band, das sich beim weiteren Entfernen des Fingers von der Stirn durchbog und schließlich riß.
Schleim! Überall Schleim! An der Stirn, an den Händen, auf dem Körper.
Schleim, der einer Qualle ähnelte. Er war einfach da. Er würde auch so schnell nicht verschwinden, denn er gehörte dazu. Es war ein Andenken der anderen Kreatur, die trotz der äußerlichen Unterschiede zwischen den beiden eine beinahe schon intime Verwandtschaft aufwies.
Boris Beckmann nickte sich zu. Er hatte es akzeptiert. Es war sein neues Ich, sein altes und auch neues Dasein. Er würde damit fertig werden, und er war plötzlich gespannt darauf, was ihm die nächsten Stunden und besonders die folgende Nacht noch alles brachte.
In den Wohnraum kehrte er nicht mehr zurück. Plötzlich verspürte er den Drang, sein Atelier aufzusuchen. Er wandte sich der Treppe zu und ging sie hoch.
Schwere Schritte, immer wieder anhaltend. Wie ein Mensch, dessen Körper plötzlich entsetzlich schwer geworden war und fürchterlich litt.
Der Weg hoch ins Atelier glich einem Kampf, den Boris gern auf sich nahm, weil er wußte, daß er sich in der Nähe seines Bildes wohl fühlen würde.
Nachdem er die Treppe hinter sich gelassen hatte, kam ihm der Gedanke, sich noch einmal umzudrehen. Und so schaute er die Stufen hinab, die er hochgekommen war.
Er sah seine Spuren.
Auf jeder Treppe war ein feuchter Abdruck zurückgeblieben. Und das, obwohl er Schuhe trug. Aber diese Masse mußte sich auf irgendeine Art und Weise auch durch das Leder seiner Sohlen gedrückt haben.
Sie atmete aus und hinterließ Zeichen.
Es machte ihm nichts mehr aus. Er schwang sich herum, weil ihn sein Bild viel mehr interessierte. Wieder tappte er darauf zu. Er wollte genau sehen, was sich in dem Auge tat, in dem er sich selbst entdeckt hatte.
Ja, er war noch da. Er hielt innerhalb dieses Auges die Verbindung zwischen ihm selbst und dem anderen aus einer fremden Welt oder Zeit.
Und er sah in dem einen Auge seines Kunstwerks den gleichen Inhalt wie in seinen. Es war nicht zu begreifen. Man mußte es hinnehmen.
Aber er würde es noch begreifen können, denn er näherte sich dem eigentlichen Ziel mit kleinen, doch kraftvollen Schritten.
Ich muß nur warten, dachte Boris. Einfach nur abwarten und die anderen machen lassen. Ich selbst kann nichts tun. Es gibt jemand anderen, der die Kontrolle ausübt. Ich bin außen vor. Ich bin nur ein Spielball der Macht, aber ich werde sehr bald schon die Macht selbst sein, denn dafür existiere ich.
Boris Beckmann lächelte seinem Gemälde noch einmal zu, als wollte er es grüßen, dann drehte er sich zur Seite und schritt auf das Fenster zu, wo er stehenblieb und einen Blick hinaus aufs Watt warf.
Der Tag war wieder dunstig, kalt, aber trotzdem hatte sich etwas verändert. Auf dem Watt hielten sich mehr Menschen als gewöhnlich auf, als wäre dort etwas passiert.
Boris hörte etwas.
Polizeisirenen.
Und plötzlich wußte er, daß am Strand etwas passiert war, und indirekt hatte es sicherlich etwas mit ihm zu tun…
***
Wir waren mit dem Auto in eine der kleinen Seitenstraßen gefahren, die am Deich endeten.
»Steht hier das Haus des Malers?« fragte ich Harry, da ich einige mit Reet bedeckte Häuser gesehen hatte.
»Nein, nicht hier. Ich wollte nur
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