Das verborgene Feuer
denn?«, fragte Beatrice.
Der grauhaarige Direktor zog einen Stapel Notizen aus der Aktentasche. »Sie wurden auf 1484 datiert. Ein wichtiges Jahr in der italienischen Renaissance – manche sprechen vom Goldenen Zeitalter von Florenz. Das war vor Savonarola, und Kunst, Philosophie, Altertumsstudien blühten –«
»James, wir wissen, was die italienische Renaissance ist«, bemerkte Charlotte.
»Nun …«, der Gelehrte errötete etwas, »es handelt sich um zwei hochinteressante Briefe. Die Übersetzung wurde an der Universität Ferrara angefertigt, und dort wurden sie auch für echt befunden.«
»Unterscheidet sich das Italien der Renaissance denn sehr vom modernen Italien?«, fragte Beatrice und wünschte sich wie so oft, ihr Vater wäre noch zugegen, um einige der Schätze zu sehen, die ihr im Zuge ihrer Arbeit begegneten.
»Ziemlich, aber darüber brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Professor Scalia scharrt bereits mit den Hufen, um sich die Briefe anzusehen, und ist ein Fachmann des Italienischen. Ich glaube, jetzt werden uns alle Historiker, Altphilologen und Philosophen unserer Universität einige Zeit lang eifrig besuchen.«
»Auch die Philosophen?« Beatrice betrachtete noch immer die gut erhaltenen Briefe und staunte unwillkürlich darüber, dass die Kanten des Pergaments gar nicht ausgefranst waren, sondern aussahen, als hätte ein ausgebildeter Archivar sie seit ihrer Entstehung in Verwahrung gehabt.
»Ja, denn die Briefe stammen von Graf Giovanni Pico della Mirandola, einem bekannten Philosophen, und sind an seinen Freund Angelo Poliziano gerichtet, der als Dichter und Gelehrter in Florenz wirkte. Die beiden Männer führten eine umfangreiche Korrespondenz und gehörten zu einem engen Freundeskreis, der durchweg aus Denkern durchaus sehr unterschiedlicher Auffassungen bestand. Sogar Savonarola gehörte zu diesem Kreis.«
»Der verrückte Priester, der alle Bücher verbrannte?«, fragte Beatrice.
Charlotte lachte leise. »Trotz der Scheiterhaufen war er eine faszinierende Persönlichkeit.« Sie schaute Dr. Christiansen an. »Wird Savonarola in den Briefen erwähnt?«
»Flüchtig. Sehen Sie sich die Übersetzungen ruhig an. Es sind vor allem persönliche Briefe; im ersten schreibt Pico über einen Waisenknaben – oder ein uneheliches Kind, beides ist möglich –, den Poliziano in Florenz gefunden und den Pico in sein Haus aufgenommen hat. Der Graf hatte keine Kinder. Da geht es vor allem um die Erziehung des Jungen, aber es wird auch erwähnt, dass Poliziano seinen Freund dem Stadtherrn, Lorenzo de Medici also, vorgestellt hat, und das ist sehr bedeutsam.«
Beatrice sah sich das Dokument genau an, den Schwung der alten Handschrift und das alte, vergilbte Pergament.
»Firenze 1484
Caro Giovanni …«
1484, dachte sie – ob das ein Zufall war?
Graf Giovanni Pico della Mirandola
. Sie schüttelte den Kopf. Dass er seinen Namen über fünfhundert Jahre beibehalten hatte, war eine geradezu lächerliche Vorstellung.
Eine schwache Erinnerung an ihre Begegnung im Museum regte sich in ihrem Hinterkopf.
»Alle Männer in meiner Familie heißen Giovanni.«
»Gut, meine Damen, heute ist viel zu tun! An diesen Schätzen dürfen wir uns erst später erfreuen. Charlotte, wie steht es um die Vorbereitungen für die Ausstellung zur Geschichte der Physik?«
Charlotte und Dr. Christiansen besprachen die Ausstellung, die im kommenden Monat eröffnet werden sollte und bei deren Bestückung die Bibliothek die Naturwissenschaftler unterstützte, und Beatrice packte die neu erlangten Dokumente ein und begab sich damit ins Magazin, um die Briefe an dem Ort abzulegen, den Dr. Christiansen ihr genannt hatte. Er schien anzunehmen, dass der Universität künftig weitere historische Briefe gestiftet würden. Beatrice überlegte erneut, wer der großzügige anonyme Spender sein mochte und warum er eine relativ unbedeutende Universität in Texas als Empfängerin eines so opulenten Geschenks bestimmt hatte. Als sie darüber nachdachte, welch seltsame Wendung ihr Leben in den letzten zwei Monaten genommen hatte, fragte sie sich, wo die Grenze zwischen Zufall und Absicht verlief.
Sie ging ihren Pflichten nach, dachte aber ständig an die geheimnisvollen Briefe und stahl sich am Nachmittag schließlich ins Magazin, um sich die Schreiben genauer anzuschauen und die Übersetzung des ersten Briefs zu lesen.
Darin war überwiegend von dem Neuzugang in Picos Haushalt die Rede, einem Siebenjährigen namens Jacopo, den
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