Das verborgene Feuer
Ende, schloss die rechte obere Schublade des Schreibtisches auf und legte die Mail hinein. Dann lehnte er sich zurück, nippte an seinem Whisky und ließ die Gedanken in die Vergangenheit schweifen.
»Es ist dort irgendwo.«
»Ich habe nachgeschaut, Gio. Da ist nichts.«
»Doch, Beatrice. Der Kunde wartet seit Monaten auf das Dokument. Es ist Ihre Aufgabe, es aufzuspüren. Wir wissen, dass es 1993 versteigert wurde und in eine Privatsammlung an der Ostküste kam«, belehrte er sie und brütete dabei über einem seiner Tagebücher, das er aus dem stets verschlossenen Schrank genommen hatte. »Setzen Sie die Teile des Puzzles zusammen. Es gibt nur wenige Auktionshäuser an der Ostküste, in denen solche Dokumente gehandelt werden, und die meisten haben ihre alten Versteigerungskataloge inzwischen online gestellt.«
»Zehn Jahre alte Kataloge?«
Er zuckte die Achseln, und sie setzte sich an den dunklen Eichentisch. »Dafür habe ich Sie eingestellt. Ich habe das Dokument bis zur Versteigerung verfolgt. Der Rest ist einfach. Schauen Sie die Liste durch, die ich Ihnen gegeben habe.«
Er hatte sie am frühen Abend auf das langweilige Lincoln-Dokument angesetzt und unterdessen die Unterlagen früherer Auftraggeber durchgesehen, um herauszufinden, wer der geheimnisvolle ›L‹ sein mochte, der die mysteriöse Mail geschickt hatte. Er verschwendete keine Energie auf die Frage, was er oder sie geschickt haben mochte, weil es darüber noch nicht genug Informationen gab. Doch wer es auch gewesen war – Giovanni war sich gewiss, dass es mit Stephen De Novo und seinen verschwundenen Büchern zusammenhing.
»Das dauert ewig.«
»Ewig ist ein sehr relativer Begriff, wenn Sie mit mir reden. Es wird länger brauchen, als frühere Recherchen, die Ihnen geistlose Professoren Ihrer Universität zugewiesen haben. Aber nicht ewig.«
»Böser alter Mann«, murmelte sie in sich hinein.
»Ich hatte Sie gewarnt, B«, rief Caspar von der Türschwelle.
»Und ich hätte auf Sie hören sollen; sein Aussehen hat mich getäuscht«, grummelte sie und wandte sich dem Monitor zu.
Giovanni ging nicht auf die beiden ein, sondern nahm sich ein Tagebuch aus der Zeit vor, bevor er in einen Vampir verwandelt worden war – einer Zeit, in der Savonarolas Scheiterhaufen in seiner Geburtsstadt loderten.
Caspar kam herein und brachte erst Beatrice einen Becher heißen Tee, dann Giovanni einen Whisky. Er stellte das Tablett auf den Wohnzimmertisch und nahm sich sein Buch, um es in seinem Lieblingssessel am Feuer zu lesen. Beatrice arbeitete nun die dritte Woche im Haus, und die drei hatten schon Rituale der Behaglichkeit entwickelt.
Giovanni huschte oft in einem solchen Tempo durch die Bibliothek, dass Beatrice erschrak, wenn sie still am PC tippte, auf den Monitor starrte und die riesigen digitalen Regionen durchstreifte, zu denen er keinen Zugang hatte. Giovanni rief ihr beim Arbeiten mitunter Suchbegriffe zu, und sie verscheuchte ihn, wenn er den elektronischen Geräten zu nahe kam.
Caspar gesellte sich zu ihnen, las den halben Abend lang und scherzte gelegentlich mit Beatrice über besonders geschätzte Horrorfilme oder stichelte Giovanni in verschiedenen Sprachen.
Doyle bewegte sich fast so schnell wie der Vampir, sprang von Schoß zu Schoß und hielt nach Leckerbissen Ausschau, die hinter Giovannis Rücken fallen gelassen wurden oder ergaunert werden wollten.
»Im Ernst, Gio: Nur ein Haus auf Ihrer Liste hat seine Kataloge online gestellt – der Rest –«
Die Küchentür krachte, und alle schraken hoch. Giovanni hob Ruhe gebietend die Hand, hörte aber keinen weiteren Laut. Caspar ging rasch zu Beatrices Schreibtisch, stellte sich neben sie und wirkte weit gefährlicher, als man es von einem siebenundsechzigjährigen Butler erwarten würde.
Giovanni dagegen knurrte leise und schlüpfte binnen Sekundenbruchteilen aus der Tür.
Er blieb witternd auf der Treppe stehen, und schnell fiel die Anspannung von ihm ab.
»Du kannst dich verstecken, Carwyn, aber dein nasser Wolfshund nicht. Ich habe Besuch. Hör auf, meinen Gästen Angst einzujagen.«
Plötzlich schlug ihm etwas auf die Schulter, und Giovanni und der stumme Eindringling polterten die Treppe herab, rollten auf die Haustür zu und stießen eine grüne Vase um, die in dem exquisit eingerichteten Zimmer stand. Eine leichenblasse Hand schoss vor, fing die Vase, bevor sie auf den Boden schlug, und warf sie auf die Sofapolster.
»Das ist eine Bien-Hoa-Vase von 1900 – wenn du die
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