Das verborgene Feuer
sah Verärgerung und Verwirrung in ihren Augen und konnte ihr beides nicht verdenken. Sie straffte die Schultern und wandte sich an Carwyn.
»Ich fahre nach Hause und nehme an, wir sehen uns morgen in der Bibliothek.«
Caspar erhob sich ebenfalls. »Ich bringe Sie zur Tür.« Der Butler begleitete sie aus der Bibliothek, doch zuvor warf sie Giovanni noch einen zornig funkelnden Blick zu.
Kaum hatten sie das Zimmer verlassen, eilte Carwyn zu Giovanni und redete auf Latein hastig auf ihn ein.
»Die Briefe –«
»Sie sind bald da, und wo sie herkommen, gibt es noch mehr«, murmelte Giovanni und zitierte damit die rätselhafte Mail, die sie vor Wochen erreicht und verblüfft hatte. »Bedienen Sie sich.«
»Lorenzo hat die Briefe geschickt, Gio. Das ist die einzige Erklärung. Sie müssen unter seinem Kopfkissen gelegen haben – sonst würden sie nicht so riechen.«
»Sie stammen aus einer Briefsammlung. Wenn er die zwei besessen hat, hat er auch alle übrigen Briefe. Und wenn er die Sammlung hat …«
»… hat er auch deine übrigen Bücher.«
Giovanni lehnte sich an den Tisch und sah ins Feuer, wobei ihn die Erinnerung an andere Feuer heimsuchte. »Wir wissen nicht, ob er sie alle hat.«
»Aber die Gerüchte …«
»… sind Gerüchte, mehr nicht. Möglich ist es … vieles ist möglich. Doch klar ist, dass er die Sammlung besitzt und die Briefe geschickt hat.« Giovanni fluchte. »Und wenn seine Mail stimmt, kommen weitere Briefe.«
»Er hat eigentlich nie geblufft«, knurrte Carwyn. »Wieso sollte er es jetzt tun?«
»Warum wusste ich nicht, dass er sie hat?«, fragte Giovanni, stieß sich von dem Tisch ab und ging mit weit ausgreifenden Schritten auf und ab. »Nach fünfhundert Jahren. Und warum schickt er sie mir ausgerechnet jetzt?«
»Sag du es mir. Du kennst ihn viel besser, als ich ihn je kennen werde. Was führt er im Schilde?«
Giovanni schritt durch die Bibliothek, rückte in Gedanken die Teile des Puzzles hierhin und dorthin und versuchte sich einen Reim auf all das zu machen, was sie am Abend erfahren hatten. Eine verstörende Überlegung ging ihm dabei so lange im Kopf herum, bis er an nichts anderes mehr denken konnte.
»Sein dreistestes Manöver ist dir entgangen, Carwyn«, raunte er dem Priester zu, blieb stehen, lehnte sich an den Eichentisch und starrte auf den leeren Tisch in der Ecke. »Er hat sie nicht an mich gesandt.« Er wies mit dem Kopf zum Tisch. »Sondern an sie.«
Carwyn bekam große Augen, als er sich umdrehte und auf Beatrices Arbeitsplatz starrte, während Giovanni leise feststellte: »Er hat sie an Beatrice geschickt.«
10
Houston, Texas
Dezember 2003
Er war aus Liebe ins Gefängnis gegangen.
Beatrice saß im Magazin, um den am Mittwochnachmittag stark besuchten Lesesaal zu meiden, und konnte den Blick nicht von der Übersetzung des zweiten Briefes von Angelo Poliziano an Giovanni Pico losreißen. Pico war wegen seiner Beziehung zu einer verheirateten Frau inhaftiert worden und hatte nur aufgrund seiner Verbindung zu Lorenzo de Medici fliehen können.
Dieser Brief trifft Dich hoffentlich bei guter Gesundheit und auf freiem Fuße an, nachdem Deine Verhaftung uns alle schockiert hat. Inzwischen dürfte Signore Andros mit dem Brief von Lorenzo in Arezzo eingetroffen sein. Bitte bedank Dich nicht bei mir, zu Deinen Gunsten tätig gewesen zu sein, denn der Medici war erpicht darauf, in dieser Angelegenheit für Dich Partei zu ergreifen, und ich oder der seltsame Grieche musste ihn dazu nicht überreden.
Er war zu Signore Niccolo Andros in Perugia gereist, wohl um dessen Büchersammlung mystischer Texte zu studieren und sich von der Haft zu erholen.
Was ist aus dem kleinen Jungen geworden?
, fragte sich Beatrice, als sie die Anmerkungen zum zweiten Brief überflog – das Schreiben erwähnte gemeinsame Freunde und sogar Savonarola, doch sie interessierte mehr die Andeutungen eines Skandals als der geschichtliche Hintergrund des Texts.
Sie las das Schreiben ein zweites Mal. Obwohl beide Briefe den ganzen Tag das lebhafte, von Dr. Christiansen vorhergesagte Interesse einer Reihe von Wissenschaftlern erregt hatten, hatte sie sie bald nach Beginn ihrer Schicht kurz für sich allein gehabt und die Übersetzungen und die Anmerkungen dazu kopieren können. Sie zweifelte kaum daran, dass Giovanni und Carwyn genau wussten, von wem die Briefe kamen, und notierte rasch, Dr. Christiansen habe erwähnt, es würden noch mehr Briefe eintreffen.
»B?«, rief Charlotte. Beatrice
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