Das verborgene Feuer
steckte die Kopien in ihre Tasche, stand auf und tat, als würde sie einen Stapel Fotos durchsehen, die katalogisiert werden mussten.
»Du hast diese Philosophen zwar so satt wie ich«, seufzte Charlotte, »aber könntest du dich trotzdem etwas um den Lesesaal kümmern?«
»Sicher.«
»Ich weiß, du musst den ganzen Abend Aufsicht führen, aber wenn ich mir ihr Geschwätz weiter pausenlos anhören muss, werfe ich noch mit alten Nachschlagewerken nach diesen Typen.«
Beatrice unterdrückte ein Lachen. Der Lesesaal war ungewöhnlich voll, weil der gesamte Fachbereich Philosophie sich die Dokumente ansah. Die Historiker waren bereits am Vormittag gekommen und vorläufig wieder verschwunden, und die Romanisten hatten sich für den Abend angesagt. Offenbar hatten alle provisorische Verträge aufgesetzt, denen zufolge die Pico-Briefe von ihrer jeweiligen Abteilung in Verwahrung genommen werden sollten.
»Hält dieser Trubel bis abends an?«, fragte Beatrice und dachte dabei an die beiden Bibliotheksbenutzer, die sicher auftauchen würden, sobald es dunkel genug war.
»Ich schätze, die Philosophen gehen gegen fünf, und dann kommt der Ordinarius für Italianistik, um sich die Schreiben anzusehen. Kennst du Dr. Scalia schon?«
Beatrice schüttelte den Kopf.
»Er sieht umwerfend komisch aus mit seiner riesigen Brille und dem Eulengesicht, ist aber angenehm und nicht so geschwätzig. Er wird vermutlich den ganzen Abend bleiben – es dürfte also recht ruhig werden mit ihm und dem Schönling, der jeden Mittwochabend kommt.«
Beatrice fragte sich seufzend, ob der arme Dr. Scalia Dr. Vecchio die Hand geben und die Briefe vergessen würde, die er sich eigentlich hatte ansehen wollen. Sie hatte das Gefühl, Giovanni sähe es nur zu gern, wenn dem italienischen Professor plötzlich einfiel, sofort Wäsche aus der Reinigung holen zu müssen. Vermutlich hatte sie einige grundsätzliche Regeln aufzustellen, was die Manipulation des Gehirns in der Bibliothek anging.
Und da auch Carwyn anwesend wäre, musste sie, wie sie fand, solche Grundregeln unbedingt aufstellen.
Ab und zu fragte sie sich, warum sie ihre seltsame neue Wirklichkeit so leicht akzeptierte. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu der Überzeugung, dass die Vorstellung, dass es Vampire gab, gar nicht so abwegig erschien.
Sie konnte damit leben, dass es Dinge auf Erden gab, die die Wissenschaft noch nicht erklärt hatte, und wer wollte entscheiden, ob einige dieser Dinge nicht auch Fänge haben konnten und zum Überleben Menschenblut trinken mussten?
Während sie Aufsicht führte und die Philosophen leise über die Bedeutung dieser Stelle oder die Tragweite jener Formulierung sprechen hörte, dachte sie darüber nach, wie viel sich verändert hatte, seit Giovanni als Mensch gelebt hatte. Falls Dr. Giovanni Vecchio tatsächlich der italienische Graf war, an den die Briefe gerichtet waren, war er nun fünfhundertvierzig Jahre alt und hatte mit kaum dreiundzwanzig Lenzen zu den fortschrittlichsten Humanisten der Renaissance gezählt.
Er hatte ihre Fragen nicht beantwortet, doch es konnte kein Zufall sein, dass ein Vampir die beiden geheimnisvollen Briefe ausgerechnet der Bibliothek geschenkt hatte, die Giovanni für seine Forschungen ausgesucht hatte und in der sie arbeitete. Das musste miteinander zusammenhängen.
Kurz nach sechs kam ein kleiner Mann mit silbergrauer Haarpracht in den Saal.
»Dr. Scalia?«, fragte sie den Besucher, der mit seinen großen runden Brillengläsern und der winzigen Nase wirklich an eine Eule erinnerte.
Er lächelte beflissen. »In der Tat! Und wer sind Sie?«
»Beatrice De Novo. Schön, Sie kennenzulernen. Sie haben sich angemeldet, um sich die Pico-Briefe anzusehen?«
»Allerdings.«
Während sie einen weiteren akademischen Wortschwall über die Bedeutung der beiden italienischen Schreiben über sich ergehen ließ, betraten Giovanni und Carwyn leise den Lesesaal. Sie führte Dr. Scalia rasch an den Tisch mit den Pico-Briefen und trat zu den beiden Vampiren.
»Also«, flüsterte sie mit strengster Bibliothekarinnenstimme, »er ist ein netter alter Mann, und ich will nicht, dass Sie zwei sein Gehirn manipulieren. Er ist Professor, er muss sich für solche Dinge interessieren.«
Giovanni runzelte die Stirn. »Wirklich, Beatrice – für wie tollpatschig halten Sie uns? Er würde nie merken, dass –«
»Das ist mir egal. Es ist sein Gehirn. Nehmen Sie keinen Einfluss darauf, und warten Sie, bis Sie an der
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