Das verborgene Kind
dich. Denkst du auch daran, deinen Sunblocker aufzutragen?«
Lottie hatte nur geschmunzelt. »Ich fürchte, für mich ist es etwas zu spät. Du weißt doch, dass ich schon immer eine Zigeunerin gewesen bin.«
Nun ja, das stimmte: Lottie war immer ein kleines braunes Mädchen gewesen – wie ein zottiges Pony. Trotzdem ... Venetia runzelte die Stirn. Ihr missfiel es, wenn eine Frau nicht das Beste aus sich machte. Natürlich war das der Grund dafür, dass der liebe alte Milo sie, Venetia, immer noch anbetete. Er liebte ihre Weiblichkeit, obwohl er keine Ahnung davon hatte, welche zermürbenden Prozeduren nötig waren, um sie zu erhalten. Umso besser, dass sie nie geheiratet hatten; dann hätte sie keine Geheimnisse mehr.
Bei dem Gedanken, Milo könnte sie jetzt ohne Kleider sehen, überlief sie ein leiser Schauer; es war viel besser, alles so zu lassen, wie es war. Sie beide spielten ein kleines Spiel, bei dem es immer noch möglich erschien, ihre intimen Beziehungen erneut aufzunehmen, während sie diesen Zeitpunkt immer wieder aufschoben. Sie liebte ihn, natürlich. Oh, was für ein gut aussehender Mann er gewesen war! Ach was, natürlich war er es noch. Immer noch schmal und elegant, hoch aufgerichtet und mit geraden Beinen. Einen Mann, der sich gehen ließ, könnte sie niemals lieben. Sie hatten beide das Glück, dass sie essen konnten, was sie wollten, ohne jemals ein Gramm zuzunehmen – und in den Jahren, in denen sie den armen, lieben Bunny gepflegt hatte, war sie selbstverständlich immer auf den Beinen und topfit gewesen. Wie geduldig er gewesen war, wie außerordentlich großmütig! Er hatte ihr ein bisschen Spaß nie missgönnt, sondern sie ermuntert, ihr Leben so gut wie möglich zu genießen. Mein Gott! Aber das hatte sie ihm auch vergolten. Sie hatte getan, was sie konnte, um ihm sein eigenes Leben so erträglich wie möglich zu machen.
Mit einem Papiertaschentuch tupfte Venetia sich ein paar Tränen ab. Sie hatte ihn über alles geliebt; oh, nicht mit der verrückten Leidenschaft, mit der sie sich in Milo verschossen hatte, aber trotzdem hatte sie Bunny geliebt. Und Milo war außerordentlich nett zu ihm gewesen. Er hatte stundenlang bei ihm gesessen oder ihn in diesem verflixten Rollstuhl ins Pub geschoben, um ein Bier mit ihm zu trinken. Natürlich waren die Männer alle mehr oder weniger gleichzeitig zur Armee gegangen. Die leichte Infanterie von Somerset war für sie damals wie eine große Familie gewesen. Oh, was für einen Spaß sie gehabt hatten! Sie hatte daran gedacht, als sie das letzte Mal die arme alte Clara besucht hatte, die ziemlich gaga war und gegenüber den jungen Pflegerinnen allmählich ungehalten wurde; sie schrie sie an und wehrte sich, wenn sie ihr die Nägel schneiden oder die Haare waschen mussten. Tragisch, einfach tragisch.
Venetia starrte ihr Spiegelbild an und unterdrückte mit purer Willenskraft die Tränen. Schultern gestrafft, Kinn gereckt. Sie hatte ein Foto von Clara aus alten, glücklichen Zeiten gefunden. Strahlend schön war sie gewesen, wie sie in einem tief ausgeschnittenen Ballkleid in die Kamera lachte. Sie hatte es fertiggebracht, zugleich gebieterisch und frech dreinzuschauen, und Venetia hatte vor, das Bild mit ins Pflegeheim zu nehmen und es den jungen Frauen zu zeigen. »Sehen Sie sich das an!«, würde sie sagen. »Das ist die wahre Clara. Das ist die Person, um die Sie sich kümmern. Seien Sie nett zu ihr!«
Sie erschauerte bei der Aussicht, wie Clara zu werden. Was würde sie dann tun? Sie hatte sich nie gut mit ihren Schwiegertöchtern verstanden, und ihre Söhne waren ziemlich hoffnungslos. Was sollte sie anfangen, wenn sie krank wurde? In solchen Momenten wünschte sie sich, Milo und sie hätten doch nach Bunnys Tod geheiratet, damit sie sicher – wenn auch frierend – in High House leben würde, versorgt von der lieben Lottie, die so viel jünger war als sie beide.
Hatte Milo eigentlich einmal vorgeschlagen, sie sollten heiraten? Bestimmt hatte er das. Vielleicht nur halb im Scherz, und sie hatte ihm eine schlagfertige Antwort gegeben – und dabei war es geblieben. Wäre es vielleicht vernünftig, Milo den Gedanken an eine Heirat nahezulegen? Das wäre natürlich nur eine Formalität, und sie könnten sehr zivilisiert damit umgehen – aber dann hätte sie Menschen um sich, die auf sie achtgaben. Wäre das den Verlust ihrer Unabhängigkeit wert? Der Gedanke war ihr schon früher gekommen, aber sie hatte sich nie dazu durchringen können. Es
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