Das verborgene Kind
war ja alles gut so, wie es war.
Venetia vollendete ihr Make-up und überprüfte ihr Äußeres noch einmal. Sie durfte nicht nervös werden. Sorgen machten schrecklich alt. Sie bückte sich, um noch einmal in den Spiegel zu schauen, und blinzelte sich zu. Wahrscheinlich brauchte sie noch nicht in Panik zu geraten.
7. Kapitel
M it einem Plastikbehälter in der Hand und mit dem aufmerksamen Pud auf den Fersen huschte Lottie aus der Gartentür. Sie umrundete das Haus bis zu der Stelle, an der vor dem Fenster des Esszimmers der Futtertisch für die Vögel stand. Sorgfältig streute sie Brotkrümel aus, ein paar Rosinen für die Amsel, ein paar Kuchenreste. Pud bezog Stellung im Gras unter dem Tisch in der Hoffnung, dass ein Leckerbissen für ihn abfallen würde, gab es aber bald auf und rannte auf der Spur eines nächtlichen Besuchers – eines Fuchses oder Dachses – über die Wiese und auf die Bäume zu. Lottie wartete und sah zur Küste hinüber, wo am blassen frühmorgendlichen Himmel ein geisterhafter Halbmond über Culbone Wood hing.
Milo beobachtete sie von seinem Schlafzimmerfenster aus. Er fühlte sich an seine Mutter erinnert, die die gleiche Arbeit getan hatte. Neben ihr war die kleine Lottie hergelaufen und hatte in einer ziemlich rührenden Mischung aus Wichtigkeit und Nervosität das Vogelfutter getragen. Sicher hatte einer von Puds Vorfahren sie begleitet und gehofft, dass etwas für ihn abfallen würde, genau wie ein Vorfahre der Amsel, die jetzt herabflog, um sich ein Stück Brot zu schnappen und es ins sichere Gebüsch zu tragen.
Milo liebte dieses Gefühl von Kontinuität und war Lottie dankbar dafür, dass sie es auf unzählige Weisen schuf; obwohl seine Mutter niemals so ausgegangen wäre, wie Lottie jetzt gekleidet war: Sie trug einen langen Strickmantel von Kaffe Fasset über ihrem Pyjama, und die Füße steckten in Gummistiefeln. Seine Mutter wäre früh auf gewesen, hätte bereits gebadet und sich fertig angekleidet, und jedes einzelne Haar hätte richtig gelegen. Sie war eine raue, robuste, starke Frau, und sie hatte die kleine Lottie geliebt.
»Sie ist die Tochter, die ich nie hatte«, pflegte sie in halb entschuldigendem Ton zu Milo zu sagen, in der Hoffnung, dass er sie verstehen würde.
Mit seinen dreiundzwanzig war er zu alt gewesen, um eifersüchtig zu werden; im Gegenteil, ihm war es ganz recht gewesen, dass sie Lottie wie ein Familienmitglied behandelte. Da Lottie so oft nach High House kam, fühlte er sich selbst weniger pflichtvergessen, obwohl er oft wegblieb, wenn er nach Hause hätte kommen können, und oft zu schreiben oder anzurufen vergaß. Einige Leute hielten sie tatsächlich für seine Schwester, während andere abfällige Bemerkungen und Anspielungen von sich gaben; doch die wurden kurzerhand abgefertigt. Er vermutete, dass Lottie in Tom verliebt war. Sie hatte nie ein Wort darüber verloren, und er hatte sie nicht danach gefragt, aber ein- oder zweimal, als sie von ihm sprach, hatte ein Ausdruck auf ihrem Gesicht gelegen, der Milo zu Herzen gegangen war. Natürlich hatte er Tom nie gekannt und war ihm nie begegnet, aber er, Milo, hatte immer großen Respekt vor Kriegsberichterstattern gehabt, und er hatte es begrüßt, dass Lottie Toms Familie unterstützte. Wenn er jetzt darüber nachdachte, hatte Lottie Tom wahrscheinlich irgendwann in den Siebzigerjahren kennengelernt, als sie sein Buch redigierte. Nach seinem Tod hatte sie gefragt, ob sie die Kinder nach High House mitbringen dürfe, um ihrer Mutter etwas Ruhe zu gönnen. Matt musste damals ungefähr fünf gewesen sein und Imogen zwei. Wie die lieben Kleinen die Freiheit geliebt hatten, auf dem Anwesen und dem großen Dachboden zu spielen! Bei der Erinnerung lächelte Milo. Seine Mutter hatte sie über alles geliebt – genau wie damals die kleine Lottie.
Die arme kleine Lottie! Wie loyal sie der kleinen vaterlosen Familie zur Seite gestanden hatte! Er erinnerte sich an eine Gelegenheit, bei der er eine CD gespielt hatte, Nocturnes und Sonaten von Chopin. Mitten in der Sonate in b-Moll hatte er bemerkt, dass Lottie zu weinen begonnen hatte, ein schreckliches, lautloses Weinen, sodass er sich nach kurzem Zögern neben sie gesetzt und sie in den Arm genommen hatte. Schluchzend hatte sie sich an ihn gelehnt, und sie hatten so dagesessen, bis sie sich beruhigt hatte.
»Es war die Musik«, hatte sie gemurmelt. »Verrückt, was? Ich bin wieder okay. Tut mir leid.«
Da war ihm klar geworden, dass die Sonate sie an
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