Das verborgene Kind
sichern.
Während er durchs Dorf ging, vorbei an den hübschen Cottages mit ihren hohen Steinkaminen und weiter in Richtung Allerford, wurde ihm klar, warum seine kurze Beziehung zu Im so magisch gewesen war. Sie hatte ihn so akzeptiert, wie er war – und dann war da noch das Vertrauen aufgrund ihrer Verwandtschaft gewesen.
»Wir waren wie Cousin und Cousine«, hatte sie gesagt, und das stimmte, aber diese liebevolle Nähe war während der kurzen Zeit, die ihr Liebesverhältnis gedauert hatte, unvergleichlich und kostbar gewesen. Sie war achtzehn gewesen und hatte ihren ersten Job in einem Rennstall in der Nähe von Newbury gehabt; und er, ein unreifer Dreißigjähriger, hatte nach ein paar katastrophalen ersten Karriereversuchen Erfolg im Terminhandel gehabt und war am Wochenende mit dem Wagen aus London gekommen, um sie zu treffen.
Das war noch so ein Gebiet, auf dem er nur allzu gern die Vergangenheit neu erfunden hätte wegen einer zweiten Chance für etwas, was er aus Angst zurückgewiesen hatte.
»Niemand darf davon wissen«, hatte Imogen ihm nervös erklärt. »Was würde deine Mum dazu sagen?«
Mit ihrer Angst hatte sie ihn angesteckt, und sogar heute noch erinnerte er sich an das Entsetzen, das ihn bei der Aussicht beschlichen hatte, seiner Mutter erzählen zu müssen, dass er in Imogen verliebt sei. Sein ganzes Leben lang hatte seine Mutter energisch ihre Meinung über die »Usurpatoren« zum Ausdruck gebracht. Als Kind hatte es großen Stress für ihn bedeutet, auf dem schmalen Grat zwischen dem drohenden Zorn seiner Mutter und seiner natürlichen Liebe zu seinem Vater und Lottie, zu Matt und Imogen zu wandeln. Dennoch hatte er immer auch die Liebe und Anerkennung seiner Mutter gebraucht und stets gefürchtet, sie könne aufhören, ihn zu lieben, genau wie sie irgendwann aufgehört hatte, seinen Vater zu lieben.
»Es ist meine Schuld, oder?«, hatte der kleine Nick damals ängstlich gefragt. »Daddy und du, ihr wollt meinetwegen nicht mehr zusammen sein.« Und keiner von ihnen hatte ihm eine angemessene Erklärung geben können, die ihn vom Gegenteil überzeugt hätte, obwohl sein Vater ihm weiterhin standhaft seine Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt hatte; sein Vater war stabiler und verlässlicher als seine Mutter gewesen, die in jenen ersten Jahren nach der Scheidung zu zornigen Tiraden gegen ihn geneigt hatte.
Im Rückblick vermutete Nick, was der Grund war: Seine Mutter war diejenige gewesen, die gegangen war. Sie hatte sich schuldig gefühlt – und versucht, sich vor ihrem Sohn zu rechtfertigen. Aber heute wusste er, dass er damals einfach viel zu jung gewesen war, um zu begreifen, wie komplex die Beziehungen von Erwachsenen waren. Er hatte sich große Mühe gegeben, die fragile Verbindung zu erhalten, die zwischen seinen Eltern noch bestand.
Nick passierte die West Lynch Farm und bog spontan seitwärts ab. Er ging durch ein kleines hölzernes Tor in einem Lattenzaun. Es führte zu einer kleinen Steinkapelle, und Nick trat ein. Er setzte sich in die hinterste Bank und betrachtete das Bild, das ihm so vertraut war. Hier hatte er als Kind an Weihnachten und Ostern mit seinem Vater gesessen oder wenn er in den Ferien aus dem Internat heimgekommen war und in jüngerer Vergangenheit mit seinen eigenen Kindern. Die Stille und die friedliche Stimmung schenkten ihm unvermutet Trost, und er begann den Moment zu fürchten, in dem er aufstehen und sich erneut der deprimierenden Realität seines Lebens stellen musste. Er beugte den Kopf und versuchte, sich eine Fürbitte, ein Gebet einfallen zu lassen, aber das Einzige, was seine verworrenen Gedanken hergaben, war die Bitte um Hilfe. Er sprach sie trotzdem aus. »Bitte hilf mir!«, murmelte er. Dann stand er auf und ging in den kalten Märzabend hinaus.
10. Kapitel
I n der Nacht fiel die Temperatur unter den Gefrierpunkt, und am Morgen waren die Narzissen auf den Böschungen zu beiden Seiten der Auffahrt von so dickem Reif überzogen, dass sie wie ein exotischer, mit Zuckerguss dekorierter Zitronenpudding aussahen. Weidenkätzchen hingen in der kalten Luft wie Stalaktiten.
Lottie stand an ihrem Schlafzimmerfenster und hüllte sich in ihren dicken wollenen Morgenmantel. Über Nacht war auf dem Feld unterhalb des Hauses ein Lamm geboren worden. Eine winzige grauweiße Gestalt lag wie ein Stein auf dem Boden, darüber standen zwei Mutterschafe. Eine Elster landete in der Nähe, und die Mutterschafe schauten wachsam in ihre Richtung. Der Vogel hüpfte
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