Das verborgene Kind
Verwirrung.
»Herrje, nein«, gab sie fröhlich zurück. »Sie brauchen keine Angst zu haben.«
»Lotties Kuchen wirken ausgezeichnet als Ballaststoff«, meinte Milo. »Kochen Sie gern, Annabel?«
»Oh ja, sehr.« Sie war nervös, weil sie ihn beeindrucken und auf ihre Seite ziehen wollte, jedoch befürchtete, er könne sie zu genau unter die Lupe nehmen. »Ich wünschte nur, ich hätte mehr Zeit dazu.«
Auf der verzweifelten Suche nach einer Ablenkung warf sie einen Blick in die Runde, lächelte zu Ims Mann auf – James, Jeremy? – und war erleichtert, als er ihr Lächeln erwiderte. Er schien ein ganz Netter zu sein, und sie war erfreut, als er sich neben sie setzte. Ihr fiel wieder ein, dass er Tierarzt war, und wundersamerweise hatte sie einen Freund, dessen Bruder denselben Beruf ausübte, daher würde sie wahrscheinlich im Gespräch bestehen können. Außerdem war es ganz lustig, neben diesem attraktiven Mann zu sitzen und so zu tun, als sei sie vollkommen fasziniert von ihm, während Matt zusah. Um die Wahrheit zu sagen, langweilte sie seine Vorstellung als guter Onkel ziemlich. Das Kind war viel zu laut und anspruchsvoll. Annabel lächelte strahlend, um den Umstand zu vertuschen, dass sie seinen Namen vergessen hatte. »Haben Sie eher eine Kleintierpraxis, oder kümmern Sie sich auch um größere Patienten?«, fragte sie.
Er wirkte ziemlich erstaunt und sehr erfreut darüber, dass sie eine Ahnung von seiner Arbeit hatte. Sie beugte sich ein wenig vor, um wirklich gespannt und interessiert zu wirken. Er setzte zu Erklärungen an, aber sie konzentrierte sich nicht allzu sehr darauf, nur gerade genug, um damit durchzukommen. Sie beobachtete Matt aus dem Augenwinkel und wartete auf die Gelegenheit, ihre nächste Bemerkung anzubringen.
»Ist es nicht einfach schrecklich«, fragte sie mit vor Bestürzung weit aufgerissenen Augen, »dass die Selbstmordrate unter Tierärzten so hoch ist? Der Druck durch panische Tierbesitzer und die viele Fahrerei, und dann wird man auch noch nachts gerufen und all das. Ein Bruder eines Freundes von mir, der Tierarzt ist, hat mit einem Mann zusammengearbeitet, der sich kurz vor Weihnachten umgebracht hat. Er hatte die Möglichkeit dazu, weil er Zugang zu all diesen Medikamenten hatte. Aber er hat eine Frau und kleine Kinder zurückgelassen. Eine Tragödie.«
Leicht erstaunt über das Schweigen, warf sie einen Blick in die Runde und bemerkte erfreut, dass jeder sie anschaute und ihr zuzuhören schien. Sie wandte sich wieder – wie hieß er noch? – Julian zu. Genau, das war sein Name.
»Haben Sie hier auch diese Probleme, Julian? Die Praxis, von der ich erzählt habe, war in Berkshire und sehr überlaufen. Hier unten geht es wahrscheinlich etwas ruhiger zu.«
Er zögerte kurz und wirkte dabei merkwürdig verlegen.
Sie wartete, beobachtete ihn und wahrte eine aufmerksame, interessierte Miene.
»Wir haben auch ziemlich viel zu tun«, sagte er schließlich beinahe widerwillig. »Obwohl wir noch nicht so groß sind. Nur mein Chef und ich und eine Sprechstundenhilfe, aber die Praxis wächst ziemlich schnell.«
»Oh«, rief sie mitfühlend aus, »aber gerade das kann ziemlich stressig werden, oder? Zu viel Arbeit für Sie beide, aber nicht genug, um eine dritte Person einzustellen.« Spielerisch berührte sie sein Knie. »Sie müssen aufpassen, dass Sie es nicht übertreiben.«
Zufrieden mit der Reaktion, lehnte sie sich zurück, um einen Schluck Tee zu trinken. Die ganze Gesellschaft wirkte gefesselt. Nur das elende Kind hatte sein Buch fallen lassen und krabbelte auf dem Sofa herum. Aber Matt achtete gar nicht auf die Kleine. Offenbar nahm er sie endlich wahr – offensichtlich war er ein wenig verärgert über ihr Interesse an Julian. Nur die alte Schachtel, Venetia, schien nicht allzu viel mitzukriegen. Offensichtlich hatte sie eigenen Gedanken nachgehangen, denn als sie jetzt das Wort ergriff, wurde klar, dass sie immer noch ans Backen und Kochen dachte.
»Ich muss zugeben«, sagte sie, »dass ich es gelegentlich mit dem guten alten Hugh Fearnley halte, der bekanntlich alles isst: Manchmal kann man des Guten zu viel tun. Ich habe immer die besten Absichten, aber manchmal komme ich damit nicht weit, und dann denke ich genau wie er: Zur Hölle damit! Wo ist der Korkenzieher?«
Zweiter Teil
23. Kapitel
M att stand unter dem Vordach auf der Veranda des Sommerhauses und sah in den strömenden Regen hinaus. Hier im Dorf, auf Meereshöhe, kam der Regen ihm sogar
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