Das verborgene Kind
zwischen sich und Jules nachzudenken. Soweit Matt das beurteilen konnte, gab sie sich viel größere Mühe, mit ihrer Enttäuschung zurechtzukommen. Und Jules wirkte fröhlicher und fast wieder wie der Alte.
»Wie willst du es nutzen?«, hatte Imogen gefragt und das Gespräch wieder auf das Haus gelenkt. »Willst du wirklich dort wohnen?«
»Ich glaube schon«, hatte er vorsichtig geantwortet. »Ich werde mich immer wieder in London aufhalten, aber ich werde auch viel hier sein.«
»Dann solltest du besser ein paar Möbel kaufen«, hatte sie pragmatisch vorgeschlagen. »Und dann kannst du eine Einweihungsparty geben.«
Nun stand er in der Diele, am Fuß der Treppe, lauschte und betrachtete sich in dem ovalen Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen, ein weiteres Relikt aus der Vergangenheit. In seiner Phantasie hörte er Geräusche: Schritte in der Küche, das Plätschern eines Pinsels, der in einem Wasserglas ausgespült wurde, Stimmen im Garten. Er schloss die Augen, um sie besser hören zu können, und plötzlich fühlte er sich in die Kindheit zurückversetzt. Vor seinem inneren Auge sah er das eigene kleine Gesicht wie in einem Spiegelbild; und dann wurde er hochgehoben und hoch in die Luft geschwungen, und er schrie auf vor Angst und Einsamkeit.
Sein Herz raste und trommelte, und er schlug die Augen auf und sah sich wieder im Spiegel. Er meinte, hinter sich auf der Veranda eine Bewegung erhascht zu haben, und fuhr herum. Aber da war niemand. Dann stand er an der Tür, schaute in den verregneten Garten hinaus, wartete und rang die Panik nieder. Nach und nach erfüllte ihn wieder das sanfte Gefühl des Friedens. Matt nahm seine Jacke, die er über das Treppengeländer gehängt hatte, warf sie über und ging in den Regen hinaus.
24. Kapitel
D er Weg verlief von der Veranda um die Schmalseite des Hauses herum zu einem ummauerten Areal. Hier konnte Matt entweder an den offenen Scheunen, in denen Autos und Gartengeräte untergebracht waren, vorbei die Auffahrt entlangspazieren, die sich durch eine Buchenallee schlängelte, oder er konnte durch das kleine Tor treten, das in den Küchengarten und auf das gemeinsame Gelände zwischen den Häusern führte.
Matt entschied sich für das Törchen. Er schloss es hinter sich, beugte den Kopf, um sich vor dem Regen zu schützen, und nahm den Weg, den die hohe Mauer säumte. Eine Amsel, den Schnabel voll mit Nahrung für ihre Jungen, ließ sich kurz auf einem hohen Gitter nieder, welches das reife Obst vor ihren Begehrlichkeiten schützte. Aus ihren scharfen, goldgeränderten Augen beobachtete sie Matt und stürzte sich dann in den Vorhang aus Efeu, der die rote Steinmauer zierte und ihr Nest tarnte, das zwischen Ästen und schützenden Blättern verborgen war. Gleich hier, bei den Treibhäusern, wuchsen in einem verglasten Frühbeet violette Veilchen, und an der Mauer standen Schlüsselblumen. Matt sog die Düfte nach frisch umgegrabener Erde und üppigem Pflanzenwuchs ein. Er wusste, wie schwer Milo im Küchengarten arbeitete, den er offenbar liebte und gut gedüngt hatte. Das Gemüse stand in präzise abgezirkelten Reihen wie ein Regiment. Die grasigen Pfade, welche die dicht bewachsenen Beete exakt unterteilten, waren gemäht. Am äußersten Punkt, dem Bogengang in der Mauer, blieb Matt für einen Moment stehen, um Milos Bemühungen angemessen zu würdigen.
»Das Unkraut hat zu viel Angst vor ihm, um zu wachsen«, meinte Lottie. »Der arme Milo! Phil Moreton wird ihm schrecklich fehlen. Phil und Angela waren sehr dankbar, weil sie den Garten nutzen durften, und Phil hat stets seinen Anteil an der schweren Arbeit übernommen, besonders seit Milos Operation.«
»Vielleicht könnte ich auch helfen«, schlug Matt vorsichtig vor. »Das würde ich gern tun.«
»Sei da ganz vorsichtig!«, hatte sie ihn gewarnt. »Milo ist ein Sklaventreiber, und du musst ein Buch schreiben.«
Der Weg durch das Gesträuch war unangenehm feucht. Matt machte es nichts aus, dass er durch die Lorbeerzweige, die sich darüberspannten, so düster wirkte. Noch immer spürte er diese Präsenz, wenn auch bei Weitem nicht so lebhaft wie im Sommerhaus. Vielleicht lag es nur daran, dass die Sonne auf den dunkelgrünen Blättern glitzerte oder ein Lichtschein durch den Regen fiel, aber Matt war, als gehe jemand über diesen Pfad, jemand, auf den er manchmal durch das Gewirr kräftiger Äste hindurch einen Blick zu erhaschen schien. Oder als stände dieser Jemand hinter ihm an der Biegung des Pfades,
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