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Das verborgene Kind

Das verborgene Kind

Titel: Das verborgene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Willett
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gerade eben seinem Blick entzogen, wenn Matt den Kopf wendete.
    »Glaubst du an Geister?«, hatte er Lottie einmal vor langer Zeit gefragt.
    »Ich bin überzeugt davon, dass dort, wo aufrichtige, starke Emotionen geherrscht haben, ein Widerhall von ihnen übrig bleibt«, hatte sie ziemlich ausweichend geantwortet. »Deine Urgroßmutter hatte das zweite Gesicht, daher hast du vielleicht die Fähigkeit geerbt, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Diese Gabe kann sehr verstörend sein.«
    Ihre nüchterne Antwort hatte ihn beruhigt; merkwürdigerweise machte sie ihm manche Dinge klar, und er hatte aufgehört, sich deswegen nervös zu machen. Wie lebenswichtig Lottie und Milo, das seltsame Paar, für ihn gewesen waren! Der liebe alte Milo mit seiner soldatischen Härte, die mit einer Begeisterung für Lyrik einherging, mit der Leidenschaft für die großen Kriegspoeten, aber auch für die Dichter des Absurden: Lear, Carroll und Belloc.
    Am Ende des Gehölzes sah Matt über die Wiese hinweg zu der Bank unter dem Flieder. Vor seinem inneren Auge erstand ein scharfes Bild von sich selbst als kleinem Jungen, wie er auf dieser Holzbank saß, die kleine Hand fest von Milos großer Hand gehalten, und zuhörte, wie Milo Gedichte aufsagte. The Jumblies von Edward Lear vielleicht oder Jabberwocky von Lewis Carroll. Doch zu Höchstform war Milo beim Vorlesen seiner Gutenachtgeschichten aufgelaufen. Es fiel ihm leicht, die Welt der Kinder zu betreten, und er konnte dem Gedicht oder der Geschichte eine solche Realität verleihen, dass Matt, an seinen Arm geschmiegt, entsetzt zuhörte, wie in Beatrix Potters gleichnamiger Geschichte der listige Mr Tod dem furchterregenden Mr Brock entgegentrat, oder vor Freude ganz außer sich geriet, wenn Peter Pan im Kinderzimmer der Darlings auftauchte. Als Matt sechs war, konnte er die meisten Gedichte von Alan Alexander Milne aufsagen. Er sprang fröhlich auf seinem Bett herum und schrie im richtigen Moment von Des Königs Frühstück: »Butter, ja?« Oder er wiederholte ängstlich »Ungehorsam«, weil er wusste, dass die Mummy von James James Morrison Morrison Weatherby George Dupree für immer verschwinden würde und ihm, wenn auch auf andere Art, das Gleiche passiert war.
    Als er so unter den triefenden Lorbeerbäumen stand, schossen ihm heiße Tränen in die Augen. Seine Mutter war genauso endgültig verschwunden wie die von James. Diese glückliche, lachende Frau, die mit ihm gespielt hatte, war fortgegangen und hatte eine fremde Person zurückgelassen, deren Gesicht vor Leid verkniffen und die vor Verzweiflung wie gelähmt war. Stumm trauerte er um sie, während der Regen die Tränen von seinen Wangen wusch. Dann überquerte er die Wiese und trat ins Haus.
    Lottie kam aus dem Salon, als Matt die Eingangshalle durchquerte. Es war beinahe so, als hätte sie auf ihn gewartet. Fragend sah sie ihn an, als könne sie ihm das eben Erlebte vom Gesicht ablesen, aber er begrüßte sie fröhlich.
    »Milo hat etwas für dich.« Sie sprach ziemlich leise, fast warnend, und instinktiv senkte er ebenfalls die Stimme.
    »Was denn?«
    »Ich hoffe, du verrätst nicht gerade das Geheimnis!« Milos dröhnende Stimme ertönte aus dem Salon, und Lottie schüttelte den Kopf und drückte Matts Arm.
    Er folgte ihr ins Zimmer, wo Milo stand und zufrieden mit sich selbst wirkte.
    »Danach habe ich überall gesucht«, sagte er zu Matt. »Konnte mir nicht erklären, wo sie abgeblieben waren. Was hältst du davon?«
    Er wies auf den ovalen Mahagonitisch, und Matt trat weiter in den Raum hinein, um sich anzusehen, was auch immer Milo gefunden hatte. Da stand – einige von allein, andere auf kleinen Stützen – eine Gruppe Aquarelle. Er erkannte das Sommerhaus sofort, obwohl darauf das ursprüngliche Gebäude dargestellt war: ein ebenerdiger Pavillon mit hübschen Säulen und hohen, eleganten Fenstern. Und dort war das Innere: das Wohnzimmer mit den zum Garten hin geöffneten Fenstern und im Wind wehenden Vorhängen und mit einer kleinen roten Katze, die sich in einem tiefen, samtbezogenen Sessel mit geschwungenen Armlehnen aus Holz zusammengerollt hatte. Auf einem anderen Bild erkannte Matt mit einem freudigen Schauer seinen Ausziehtisch und den alten Hackklotz genau an der Stelle der Küche, an die er die Sachen gerückt hatte. Auf dem Tisch stand ein Glas Wicken neben einem flachen Korb voller frisch gepflückter Stangenbohnen. Ein anderes Bild zeigte die Veranda von der Eingangshalle aus; ein Schaukelstuhl sah aus, als sei

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