Das verborgene Kind
fertigbringen, sich aufzurappeln, sie aufzuschließen, dann zu öffnen und um Hilfe zu rufen? Sie musste es versuchen. Sie durfte nicht die ganze Nacht auf dem Boden verbringen. Wer wusste schon, wann jemand kommen und sie finden würde?
»Milo«, murmelte sie mit tränennassen Wangen. »Milo. Hilf mir!«
Vor Schmerzen weinend, zwang sie sich erneut, sich vorzubewegen. Zentimeterweise rückte sie auf die Haustür und das Lichtrechteck zu, das durch die halb geöffnete Küchentür in die Diele fiel. Doch dann überwältigte der Schmerz sie, und sie verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, klingelte das Telefon erneut. Vielleicht wäre es ja vernünftiger, wenn sie versuchte, das Telefon zu erreichen. Es war zwar weiter entfernt als die Haustür, aber um diese abendliche Stunde – wie spät war es eigentlich? – wären ihre Aussichten dann vermutlich besser, als wenn sie auf der Türschwelle läge und um Hilfe riefe. Stets vorausgesetzt, sie würde es fertigbringen, den Hörer abzunehmen und einen Krankenwagen zu rufen. Langsam, ein Bein nachziehend und ohne Kraft im linken Arm, kroch sie weiter und betete um Hilfe.
Lottie legte den Hörer auf und sah Milo an. Er war offensichtlich irritiert und hielt die Fernbedienung wartend in einem Winkel, der darauf hinwies, dass er die DVD weiterlaufen lassen wollte.
»Sie geht immer noch nicht ans Telefon«, sagte sie verwirrt.
»Vielleicht ist sie ja mit einer ihrer Freundinnen essen«, meinte er. »Sie geht schließlich manchmal aus, weißt du? Warum bist du so zappelig?«
Seit dem frühen Abend war Lottie unruhig. Beim Abendessen war sie ziemlich still gewesen. Sie konnte sich nicht auf den Film konzentrieren, den Milo zu ihrer Unterhaltung ausgesucht hatte. Ständig nahm sie ihr Strickzeug zur Hand und legte es wieder weg.
Matt beobachtete sie. »Soll ich rasch nach Dunster fahren?«, schlug er vor. »Nur um nachzusehen, ob es ihr gut geht?«
»Also wirklich«, sagte Milo verärgert, zog die langen Beine an und schickte sich an aufzustehen. »Wenn jemand fährt, dann besser ich. Aber was, wenn sie tatsächlich ausgegangen ist? Willst du dann alle ihre Freundinnen aufspüren, um zu erfahren, wo sie steckt?«
»Tut mir leid, Milo.« Lottie setzte sich wieder. »Ich habe nur so ein ungutes Gefühl. Und es ist ziemlich spät, fast elf. Ich glaube nicht, dass Venetia und ihre Freundinnen noch so lange ausgehen.«
»Ach, schon gut!«, meinte er demonstrativ resigniert. »Aber du kommst besser mit, dann kannst du ihr erklären, warum wir vor ihrer Haustür auf sie warten, wenn sie nach Hause zurückkehrt. Oder warum wir sie geweckt haben, falls sie beschlossen hat, früh zu Bett zu gehen.«
»Und ob ich mitkomme!«, gab Lottie zurück, seinen Sarkasmus ignorierend. »Als sie heute Morgen angerufen hat, sagte sie, dass sie sich ein wenig benommen fühle. Vielleicht geht es ihr nicht gut, und sie ist ins Bett gegangen. Aber sie hat ein Telefon am Bett stehen ...«
»Ach, komm schon!«, meinte er ungeduldig. »Wenn wir schon fahren, dann bringen wir es hinter uns. Wo ist der Ersatzschlüssel von ihrem Haus?«
»Hängt am üblichen Platz, an dem Haken in der Diele.« Lottie packte ihr Strickzeug weg und zog, an Matt gerichtet, eine Grimasse. »Wenn sie nur früh ins Bett gegangen ist, werde ich mir schrecklich dumm vorkommen«, erklärte sie.
»Es ist besser, sich zu vergewissern«, meinte er beruhigend.
Sie nickte. »Bis später dann! Bin schon unterwegs«, setzte sie, an Milo gerichtet, hinzu, der aus der Diele irgendwelche Anweisungen brüllte. »Bis später, Matt!«
Er war eingeschlafen und fuhr hoch, als das Telefon klingelte.
»Oh, Matt.« Lotties Stimme zitterte. »Sie war die Treppe runtergefallen. Sie hat sich einen Arm und einen Knöchel gebrochen und Schnittwunden am Kopf. Wir sind im Krankenhaus von Minehead. Sie ist in Ordnung, aber sehr mitgenommen. Es zerreißt einem das Herz, wie zerbrechlich sie aussieht. Als wir ankamen, hat sie vor Erleichterung hysterisch geweint. Aber sie war so tapfer. Sie lag in der Diele, eiskalt und mit ganz nassem Haar. Die arme Venetia!«
»Gott sei Dank, dass ihr nach ihr gesehen habt«, meinte er. »Sie hätte ja die ganze Nacht dort liegen können. Ich wette, Milo war entsetzt bei dem Gedanken, dass er beinahe nicht hingefahren wäre.«
»Ja, das war er wohl.« Lotties Stimme klang, als lächle sie. »Du weißt ja, wie die Leute reagieren, wenn jemandem, den sie lieben, etwas zustößt. Als er sie da so
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