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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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sprechen, achtete jedoch erst nicht auf die Worte, bis sie vernahm:
    »Bald sind wir wieder zu Hause in England, dann ist all das schon vergessen.« Falls Delphine ihre Freundin damit hatte trösten wollen, bewirkten ihre Worte das Gegen teil. Kalte, trostlose Verzweiflung verschlang Dimity, und sie schüttelte heftig den Kopf.
    »Nein! Ich werde das alles hier nie vergessen, solange ich lebe. Ich will für immer hierbleiben«, stieß sie hervor.
    »Das kann doch nicht dein Ernst sein! Ich meine … Es ist natürlich schön, hier Urlaub zu machen, aber es ist doch kein Zuhause, oder?«, entgegnete Delphine, die im Schlafanzug neben ihr saß, die Arme um die Knie geschlungen. Élodies dunkle Augen beobachteten sie von ihrem eigenen Bett aus, hart und glänzend wie Flaschenglas.
    »Es ist besser als zu Hause«, sagte Dimity leise.
    Dimity verbrachte die Rückreise dämmernd in fiebriger Schwäche. Sie war sich nur ständiger Bewegung bewusst und wie unbehaglich und erschöpft sie sich fühlte. Weite Wüstenlandschaft, eine frische Meeresbrise an der Küste, dann wieder die Übelkeit an Bord eines Schiffes. Sie war zu schwach, um zu verzweifeln, selbst als Marokko immer weiter hinter ihr zurückblieb, doch sie spürte das Wissen darum, das in ihr lauerte. Es erinnerte sie an die toten Ge schöpfe, die manchmal an den Stränden um Blacknowle angespült wurden: schwarz und kalt, verunstaltet, faulig. Es wartete darauf, dass sie wieder gesund genug wurde, um Trauer zu empfinden. Sie wurde zu Hause abgeliefert und Valentinas ruppiger Fürsorge überlassen, und sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in ihrem eigenen Bett gelegen hatte, als sie endlich mit klarem Kopf aufwachte.
    Der Stand der Sonne sagte ihr, dass Nachmittag war, nicht Morgen, und eine Zeit lang konnte sie sich nicht erklären, warum Valentina sie nicht längst geweckt hatte. Sie setzte sich auf, und obwohl jeder ihrer Muskeln schmerzte und ihre Knochen sich weich und schwach anfühlten, war ihr nicht mehr schwindelig, und ihr Körper gehorchte ihr. Sie nahm einen kränklichen, schalen Geruch an sich wahr, und das Haar hing ihr in fettigen, dicken Strähnen ums Gesicht. Sie rieb sich die Augen und sah, dass sie Schmutz unter den Fingernägeln hatte. Rotbraunen Schmutz – Wüstensand. Da war ein schreckliches Gefühl in ihrem Bauch, als zerreiße es sie innerlich, und sie legte hilflos die Hände darauf.
    Dimity ging langsam nach unten und fand Valentina in der Küche. Sie stand vor einer Schale auf der Arbeitsplatte und nahm Makrelen aus.
    »Bist du also wieder zum Leben erwacht, ja? Wurde auch höchste Zeit«, sagte sie.
    »Wie lange bin ich schon hier?«, fragte Dimity.
    »Drei Tage, und nichts hast du derweil getan außer zu schwitzen und Unsinn zu brabbeln.« Valentina wischte sich grob die Hände an der Schürze ab und kam zu ihrer Tochter herüber. Sie packte eine Faust voll von Dimitys Haar und zog es zurück, um die Platzwunde an ihrer Stirn zu untersuchen. Die war inzwischen nur mehr ein gerader, dunkler Strich, die Beule stark abgeschwollen und der Bluterguss darum herum zu Gelb- und Brauntönen verblasst.
    »Wer hat dir die denn verpasst?«, fragte sie und drückte mit dem Zeigefinger daran, sodass Dimity vor Schmerz das Gesicht verzog.
    »Niemand. Ich habe mir den Kopf gestoßen.«
    »Tja, das war ziemlich dumm von dir, was?«, entgegnete ihre Mutter. Sie sah Dimity in die Augen, und einen Moment lang drückte sich in Valentinas Blick etwas aus, das sie innehalten ließ. Dimity meinte eine Art stumme Erleichterung darin zu entdecken. Dann presste Valentina die Lippen zusammen und wandte sich wieder den Fischen zu.
    »Haben wir etwas zu essen? Ich habe solchen Hunger«, sagte Dimity. Valentina warf ihrer Tochter einen kurzen Blick zu und runzelte erst die Stirn, ehe sie nachgab.
    »Brot ist im Kasten, und Mr. Brown hat uns ein Glas vom Pflaumenmus seiner Frau mitgebracht, da drüben.« Sie gestikulierte mit dem blutigen Messer. »Und, wie war dieses ferne Land, das du dir angesehen hast?« Die Frage troff vor Verachtung, und zwar so sehr, dass Dimity sich fragte, ob sich dahinter etwas anderes verbarg. Aber was, das konnte sie nicht recht einschätzen. Doch gewiss kein Neid?
    »Es war …« Sie verstummte. Sie wusste nicht, wie sie es in Worte fassen sollte. Das Leben dort war so süß gewesen, so durchtränkt von Farben und Entdeckungen und Charles und Leichtigkeit und neuen Dingen, dass dieselben alten Worte, die sie zuvor stets benutzt hatte,

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