Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
ein paar sehr anstrengende Monate. Verstehst du?« Sie putzte sich lautstark die Nase mit einem Stück Zeitungspapier, das verschmierte Druckerschwärze auf ihrer Oberlippe hinterließ.
»Ich will dir nur helfen«, sagte Zach sanft. »Das musst du doch inzwischen gemerkt haben?«
Sie machten Tee, und als sie ihre Becher ausgetrunken hatten, ging Hannah kurz hinaus. Sie kam mit einem kleinen Umschlag in der Hand zurück.
»Was ist das?«, fragte Zach, als sie ihm den Umschlag gab. Hannah setzte sich ihm gegenüber.
»Mach ihn auf.« Stirnrunzelnd blickte Zach auf den Briefumschlag hinab. Die Adresse war in einer extravaganten Handschrift geschrieben, mit vielen Schnörkeln und Schwüngen, und nicht einfach zu entziffern. Die Adressatin war Delphine Aubrey. Zach blickte zu Hannah auf. »Den habe ich bei den Sachen meiner Großmutter gefunden, als sie verstorben war. Es ist der einzige. Der einzige Brief von Celeste, meine ich. Sie hat ihn all die Jahre aufbewahrt. Ich dachte, er … interessiert dich vielleicht«, erklärte Hannah.
»O mein Gott«, murmelte Zach. Ehrfürchtig strich er mit dem Daumen über ihren Namen. Delphine. Hannah stand abrupt auf.
»Ich gehe schwimmen. Ich brauche endlich einen klaren Kopf. Komm doch nach, wenn du ihn gelesen hast.« Zach nickte geistesabwesend, schon dabei, den Brief aufzufalten.
Delphine, chérie, meine Tochter. Du fehlst mir so sehr. Ich hoffe, dass Du mich nicht ganz so sehr vermisst, aber diese Hoffnung ist wohl unsinnig. Du warst schon immer sehr liebevoll und zuverlässig. Du warst immer ein braves Kind, und Du warst Élodie eine gute Schwester. Steh mir bei – allein ihren Namen niederzuschreiben ist, als würde ich mich mit einem Messer schneiden. Meine arme Delphine, wie könntest Du es ahnen? Wie könntest Du den Schmerz begreifen, den ich fühle? Es war auch schmerzlich für Dich, sie zu verlieren, Deine Schwester, aber ein Kind zu verlieren ist mehr, als ein Mensch ertragen kann. Es ist mehr, als ich ertragen kann. Ich bin gewiss, dass Dein Vater sich um Dich kümmern wird. Sein Herz ist wie eine Wolke am Sommerhimmel. Es treibt vorbei, wird hierhin und dorthin geweht, es jagt den Wind und die Sonne. In mancher Hinsicht ist es unbeständig. Aber die Liebe zu einem Kind sitzt nicht im Herzen – sie sitzt in der Seele. Er kann Dir gegenüber gar nicht unbeständig sein. Du bist ein Teil von ihm, so, wie Du ein Teil von mir bist. Auch Élodie war ein Teil von uns, und seit ihrem Tod bin ich nicht mehr ganz. Ich werde nie wieder heil und ganz sein. Ich bin selbst wieder wie ein Kind, nicht länger eine Mutter. Ich weiß nicht mehr, wie ich weiterleben soll. Ich bin bei meiner Mutter, und sie kümmert sich um mich.
Diesen Brief habe ich in der Absicht begonnen, Dir zu schreiben, dass Du zu mir kommen sollst, wenn der Krieg vorüber ist. Falls Du das möchtest. Aber die Vorstellung, Dich zu sehen, erfüllt mich mit Angst. Einer furchtbaren Angst. Wenn ich daran denken will, Dich zu sehen, denke ich nur daran, dass ich Élodie nicht sehen werde. An diese Lücke an Deiner Seite, in unser aller Leben. Und das ist ungerecht und grausam, und es sollte nicht so sein. Dennoch fürchte ich mich davor und kann es nicht ertragen. Also schreibe ich Dir stattdessen: Komm nicht her. Bitte nicht. Und sage Deinem Vater nicht, wo ich bin. Ich werde ihn immer lieben, aber ich bemühe mich jeden Tag, mir diese Liebe aus dem Herzen zu schneiden. Es tut nicht gut, einen Mann wie Charles zu lieben. Und natürlich sehe ich Élodie auch in ihm. Ich sehe sie überall, selbst in den Augen meines Vaters, die sie geerbt hat. Wie ist es möglich, dass sie tot ist? Ich verstehe gar nichts mehr.
Du hast dieses Schicksal noch weniger verdient als andere Menschen, Delphine. Versuche, glücklich zu sein. Fang ein neues Leben an. Versuche, mich zu vergessen, und das, was Du getan hast. Mein Leben ist vorbei, ich bin nur noch ein Schatten. Aber für Dich ist vielleicht noch genug Zeit. Du bist jung genug, um neu anzufangen und zu vergessen. Versuche zu vergessen, meine Delphine. Sage Dir, dass Deine Mutter tot ist, denn das Beste in mir ist zweifellos gestorben. Du hast ein gutes Herz. Dein Herz war immer gut, ma chérie. Sei glücklich, wenn Du kannst. Ich werde nicht wieder schreiben.
C.
Zach las den Brief dreimal und versuchte sich vorzustellen, wie sehr er Delphine verletzt haben musste. Er erhaschte eine kurze Vorstellung davon, und Traurigkeit rollte wie finstere Wolken über ihn hinweg.
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