Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
das Buch in seinen Händen beugte, kam es Dimity so vor, als hätte er mit ihr gesprochen. Die Zeichnung war leicht und fließend, der Hintergrund nur grob skizziert – vage Andeutungen von Land und Himmel. Die Beine und Füße der Mädchen verschwanden im hohen Gras, das mit hastigen, einfachen Strichen dargestellt war. Doch ihre Gesichter, ihre Hände, ihre Augen waren lebendig. Delphine strahlte, offenbar sehr erfreut.
»Ich finde es hervorragend, Daddy«, sagte sie in einem ernsten, erwachsenen Tonfall.
»Und du, Mitzy? Gefällt es dir auch?«, fragte er und drehte die Zeichnung um, sodass sie sie gut sehen konnte.
Es fühlte sich sehr seltsam an, vielleicht sogar ungehörig. Dimity war nicht sicher. Die Luft schoss zu schnell in ihre Lunge, und sie konnte nicht mehr ganz ausatmen. Sie brachte kein Wort heraus und wusste auch nicht, was man in so einem Moment sagen sollte. Delphine kam daran offenbar nichts ungehörig vor, aber sie war ja auch seine Tochter. Er hatte den Umriss von Dimitys Körper unter ihren Kleidern eingefangen und auch die Sonne auf ihrer Wange unter dem durchscheinenden Schleier ihres Haars. Um all das so genau zu erfassen, musste er sie lange betrachtet haben. Genauer betrachtet, als es je irgendwer zuvor getan hatte – gerade sie, die daran gewöhnt war, für die Bewohner von Blacknowle praktisch unsichtbar zu sein. Sie fühlte sich schrecklich entblößt. Die Hitze schoss ihr in die Wangen, ohne Vorwarnung kribbelte es plötzlich in ihrer Nase, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Oh, bitte sei nicht böse! Ist schon gut, Mitzy … Ehrlich. Daddy – du hättest sie vorher fragen müssen!«, rief Delphine. Dimity hielt es nicht mehr aus, sie wandte sich hastig ab und ging den Hügel hinab in Richtung ihres Häuschens. Sie versuchte sich vorzustellen, was Valentina dazu sagen würde, dass ein fremder Mann Bilder von ihr zeichnete. Und obwohl sie gar nichts dafür konnte, sah sie deren höhnisch verzerrten Mund ganz deutlich vor sich. »Bitte komm bald wieder, Mitzy! Es tut ihm leid!«, rief Delphine ihr nach. Dann hörte sie den Mann sprechen.
»Frag doch deine Eltern, ob du mir Modell stehen darfst!«
Dimity ignorierte alle beide und kam gerade rechtzeitig zu Hause an, um zu sehen, wie die Tür geöffnet und ein Besucher eingelassen wurde. Sie sah nicht mehr, wer es war, und wusste deshalb nicht, wie lange er bleiben würde. Also ging sie hinters Haus und setzte sich zu der alten Sau Molly in den Schweinekoben – den Gestank nahm sie auf sich, um der Wärme und der netten Gesellschaft willen. Sie fragte sich, was es wohl genau bedeuten mochte, Delphines Vater Modell zu stehen . Sie überlegte lange und fand keine einzige Antwort, die sie nicht beunruhigte. Zornig rieb sie sich die Augen, wo die Haut von den wenigen Tränen juckte. Und der Gedanke daran, dass sie nie mehr dorthin gehen und Delphine nicht wiedersehen konnte, versetzte ihr einen unerwarteten, kummervollen Stich.
Das Tor der Southern Farm war einmal weiß gewesen, doch die Farbe war größtenteils abgeblättert, und darunter zeigte sich das graue, alternde Holz. Die Torflügel hingen ein wenig schief in den Angeln und versanken zur Mitte hin im hohen Gras. Es war ein stürmischer Tag, und der Wind hatte sich stark abgekühlt. Zach schob die Hände in die Taschen, als er den Hof betrat. Ein Schild an der Abzweigung oben an der Straße kündigte an, dass man hier Eier kaufen könne, und obwohl er eigentlich keine brauchte, schien ihm das ein geeigneter Vorwand zu sein, dem Hof auch ohne Einladung einen Besuch abzustatten. Er wollte die spröde Hannah Brock wiedersehen, denn er spürte ein Interesse an dieser Frau, das unabhängig von ihrer Bekanntschaft mit Dimity Hatcher war. Der Hof war still und verlassen. Er dachte kurz daran, an die Tür des Wohnhauses zu klopfen, doch es sah verschlossen aus, alles andere als einladend. Im rechten Winkel dazu flankierten Wirtschaftsgebäude den betonierten Hof, und Zach ging auf das näher liegende zu, ein niedriges Gebäude mit bröckelnden Natursteinmauern und einem rostigen Blechdach. Aus dem dunklen Inneren war das Rascheln von Stroh zu hören, und als er näher kam, begegnete er den starren, harten Blicken von sechs hell braunen Schafen, die neugierig in seine Richtung schnaub ten. Der Gestank aus dem Stall war süßlich und durch dringend.
Das nächste Gebäude war viel größer und beherbergte hohe Stapel Heuballen und ein uraltes landwirtschaftliches Gerät mit
Weitere Kostenlose Bücher