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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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verbreiteten, und nach ihrer Welt, die Dimity hatte betreten dürfen, um für kurze Zeit ein Teil davon zu werden. Sie sehnte sich danach, die Aubreys zu sehen, denn dann würde auch sie selbst nicht mehr unsichtbar sein.

5
    Dimity blinzelte und gab ein leises, kehliges Summen von sich, und Zach riss sich aus seinen Tagträumen. Ein so ausgedehntes Schweigen war entstanden, während sie das Bild betrachtete, dass seine Aufmerksamkeit abgeschweift war. Er hatte sich erlaubt, einzelne Sandkörner auf dem Boden zu betrachten, die in einem Streifen Sonnenlicht schimmerten, dem sanften Rauschen des Meeres zu lauschen, das mit einem leisen Echo durch den Kamin hereindrang, und eine riesige, dünne Spinne zu beobachten, die reglos zwischen den Deckenbalken über seinem Kopf saß. Die alte Frau hielt ein Blatt Papier in der Hand, das Zach an Pete Murrays Farbdrucker hatte ausdrucken dürfen. Es zeigte ein großes Ölgemälde von Mitzy in einer moosbewach senen Ruine. Das gesprenkelte Licht unter dem Blätterdach verlieh ihr eine solche Tiefe und Struktur, dass sie wie ein Teil des Waldes wirkte, ein Teil des Landes, wie ein Fabelwesen, das in den Farben seiner Umgebung Gestalt annahm. Über ihrem Kopf ragte ein Wasserspeier auf, verzerrt und undeutlich, doch er schien ihr Gesicht zu haben – ein steinernes Echo des zauberhaften Mädchens, das darunter stand. Dimitys Lippen bewegten sich erneut und schienen diesmal Worte zu formen, also räusperte sich Zach.
    »Dimity? Ist alles in Ordnung?«
    »Er hat so viele Skizzen gemacht dort oben bei der Kirche. Das ist die Sankt-Gabriels-Kapelle, in der spukt es. Er konnte sich nicht entscheiden, wie ich am besten stehen sollte. Drei Wochen lang sind wir immerzu dorthin gelaufen. Wir müssen diesen Pfad den Hügel hinauf tiefer festgetrampelt haben, als er je zuvor war. Eines Tages ist mir furchtbar schwindelig geworden, weil ich so lange still gestanden habe, mit knurrendem Magen. Ich hatte keine Zeit zum Frühstücken gehabt, denn er wollte unbedingt das Licht ganz früh am Morgen nutzen. Alles klang mit einem Mal irgendwie verzerrt in meinen Ohren, und es wurde dunkel um mich herum, und ehe ich mich’s versah, lag ich auf dem Boden, und er hielt meinen Kopf auf seinem Schoß, als sei ich etwas Kostbares …«
    »Sie sind in Ohnmacht gefallen?«
    »Jawohl. Er muss im ersten Moment ein bisschen böse auf mich gewesen sein, weil ich mich bewegt habe, bis er gemerkt hat, dass ich ohnmächtig geworden war!« Sie lachte leise, wiegte sich auf ihrem Stuhl vor und zurück, faltete die Hände und reckte sie leicht in die Höhe. Das Blatt Papier flatterte wie ein einsamer Flügel. Zach lächelte und spielte an dem Notizbuch auf seinen Knien herum.
    »Das war 1938, richtig? In dem Jahr, bevor er in den Krieg zog.«
    »Ja. Dieses Jahr … Ich glaube, das war das schönste in meinem Leben …« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab und erstarb. Einen Moment lang glänzten ihre Augen, und ihr Blick wurde starr. Sie ließ das ausgedruckte Bild fallen, und ihre Finger ertasteten das Ende ihres langen Zopfes und rollten es zusammen. »Charles war auch glücklich. Ich erinnere mich genau. Ich habe ihn angefleht, im Jahr danach … Ich wollte, dass wir immer so glücklich sind …«
    »Das muss eine schwere Zeit gewesen sein … Der Todesfall in der Familie, und unter so tragischen Umständen. All der Aufruhr«, bemerkte Zach. Dimity antwortete nicht gleich, doch ihr Blick war nicht wie sonst in solchen Pausen in die Vergangenheit gerichtet. Zach sah flinke Gedanken über ihr Gesicht huschen. Ihr Mund öffnete sich leicht, die schmalen Lippen teilten sich, und die Zungenspitze lugte ein wenig hervor. Dort verharrte sie still, bis die richtigen Worte bereitlagen.
    »Das war eine – schreckliche Zeit. Für Charles. Für uns alle. Er wollte sie verlassen, wissen Sie. Celeste verlassen, um mit mir zusammen zu sein. Und als es dann passierte, fühlte er sich furchtbar schuldig, verstehen Sie?«
    »Aber ihm hat doch gewiss niemand die Schuld an der tragischen Geschichte gegeben?«
    »Doch, manche schon. Manche schon. Weil er ein älterer Mann war, und ich noch so jung. Nun, mein Körper vielleicht, aber ich hatte eine alte Seele. Das wusste ich schon immer – selbst als ich noch ein Kind war, habe ich mich nie wie eines gefühlt. Ich glaube, wir bleiben nur Kinder, wenn die Leute uns Kind sein lassen, und mich hat niemand gelassen. Es gab Gerede, wissen Sie – über Sünde, die Sünde gebiert.

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