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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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nichts Schöneres gab es unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein. Ich war Ich. »Ich bin meine Freiheit.«
    Die Landung war hart. Obwohl es nicht die Mutter, sondern der Bruder war, der mich rüttelte und fragte, ob mir nicht gut sei.
    Ich fühlte meinen Rücken schmerzen, die Beine waren eingeschlafen.
    Alles in Ordnung, sagte ich mit schwerer Zunge, erhob mich aber so mühsam, daß der Bruder mir unter die Arme griff. Das Heftchen mit Goethe-Gedichten glitt mir aus dem Schoß. Als ich mich nach ihm bückte, wäre ich fast vornübergefallen.
    >Eilt!< befahl der Aktenordner, mit dem mich Frau Wachtel kurz vor Feierabend ins Labor schickte.
    Die Labors, drei stabile Bretterbungalows mit Wellblechdächern, standen, braun, grün, ocker gestrichen und von Pappeln umrauscht, wie verspielte Kinder neben dem ernsten Fabrikbackstein und den nüchternen Betonbauten. Die Pappeln rochen nach nasser Wäsche. Ihre Blätter, noch speckig, spielten schon das grün-weiße Wechseldich mit dem Wind, Fenster und Türen der bunten Baracken standen weit offen. Aus einem der Fenster winkte mir Mechthild übermütig zu. Sie trug einen weißen Kittel, der ihre bräunliche Haut noch dunkler schimmern ließ und ihr eine erwachsene Würde verlieh. Mechthild, früher eines der stillsten Mädchen der Klasse, war nicht wiederzuerkennen.
    Zwei Männer, die ich schon mit ihr in der Kantine gesehen hatte, stellten sich vor, gaben mir die Hand, sagten Sie zu mir, boten mir einen Stuhl an und fragten, ob ich ihnen ein bißchen Gesellschaft leisten wolle. So konnte man also auch ins Leben treten.
    Alles ging den dreien leicht von der Hand, spielerisch bewegten sie Kolben und Gläser mit- und gegeneinander, gössen Flüssigkeiten in eins, fachten Flämmchen an oder drosselten sie, zählten Tropfen aus braunen Fläschchen in klares Wasser, es färbte sich grünlich, bröselten ein paar Körner hinzu, es färbte sich rot. Von Zeit zu Zeit schaute einer auf die Uhr, stoppte den Lauf einer Flüssigkeit und notierte mit schnellen Strichen etwas in eine Tabelle.
    Ich glaube, Fräulein Palm braucht eine Stärkung, meinte der Jüngere, ein sportlicher Blonder, und blinzelte dem Endfünfziger verschmitzt zu. Der kniff die Äugelchen zusammen, zwirbelte seinen Schnurrbart, sah mich listig an und nickte: Dat Weet kann ein Schlückchen vertragen. Wat meinst du, Meschthildsche?
    Mechthild stupste mich in die Rippen: Na klar, sagte sie. Dat Hilla hält dicht, worauf der Rheinländer, wie aus der Haut gezogen, drei stattliche Reagenzgläser zwischen den Fingern seiner linken Hand hielt und sie randvoll mit klarer Flüssigkeit aus einem Kolben goß, den er aus der Fülle der unterschiedlichen Glasgefäße zielsicher herausgegriffen hatte. Mit feierlicher Verbeugung drückte er mir das größte Glas in die Hand. Mescht- hildschen kriegt keins, sie hatte schon eins, hoben die beiden Männer die Gläser zur Brust und: Na, denn fröhlischen Einstand.
    Was war das? japste ich, atemringend.
    Betriebsgeheimnis, flachste der blonde Sportler. Jeruchlos, je- schmacklos bis de deine Sorjen los, ergänzte der Rheinländer. Geruchlos und geschmacklos war die Flüssigkeit, folgenlos war sie nicht. Ich war vom Underberg einiges gewöhnt. Der helle Geist des Kolbens war überwältigender als alles, was mir je widerfahren war. Viel fehlte nicht, und ich wäre den beiden Männern um den Hals gefallen. Sie waren groß und gut, Mechthild die beste Freundin auf Erden, alles war groß und gut.
    In den Wiesen am Rhein holte ich meine Goethe-Gedichte aus dem Matchbeutel. Lehnte mich in den Schatten einer Erle, nichts vor Augen als einen grünen Streifen aus Gras, einen gelben aus Sand, einen grauen aus Wasser und einen aus Himmelblau. Und die Streifen der Zeilen, rubinrot im Sonnenlicht. Der helle Geist spülte meine Seele heraus aus Eilschrift, Verkehrsschrift, Zehnfingersystem, »lösest endlich auch einmal meine Seele ganz<.
    Die Ordnung der Buchstaben wurde mir erkennbar wie die Ordnung der Dinge. Ich verstand, warum ein Blatt ein Blatt ist und warum ein Blatt >Blatt< heißt. Ich liebte das Wort >Blatt<. Am Baum, im Buch. Ich liebte es, Blätter vom Baum zu den Blättern ins Buch zu legen, Blätter verheiraten nannte ich das, Kinder kriegen, wenn sich das grüne Blatt mit den schwarz-weißen vermischte, wenn sich der Abdruck des Blattes vom Baum auf dem Buchblatt zeigte. Daß Papier aus Holz hergestellt wird, daß eineenge Beziehung besteht zwischen Buchblatt und Baumblatt, war mir

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