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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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einer Woche hatte der Pastor dazu einen Hirtenbrief verlesen. Politik war etwas für Männer. Ich setzte mich in eine Ecke und vertiefte mich in Hildegard von Bingen. Bis die Stimmen der Männer allmählich leiser wurden, so leise, daß ich aufhorchte und nur noch ein paarmal Stalingrad und Stukas, Rückzug und Ostfront hörte. Onkel Mätes, der erst vor kurzem als Spätheimkehrer aus Rußland zurückgekommen war, schlug plötzlich die Hände vors Gesicht und stöhnte: Jott, wat esch do jesinn han. Jott, wat esch do jedonn han. Der Onkel grunzte. Schluchzte er? Seine Schultern zuckten. Die Standuhr tickte. Alle schwiegen. Draußen schrien die Vögel. Onkel Mätes schob den Stuhl zurück. Onkel Schäng klopfte ihm auf den Rücken, als hätte er sich verschluckt, und ließ dann den Arm auf seiner Schulter liegen, eine seltene Geste. Die Männer meiner Verwandtschaft berührten sich nie, kamen sich kaum näher als bis zum Handschlag, und den gab es auch nur, wenn es feierlich wurde, ernst. Ansonsten begnügte man sich mit einem trockenen Tach und zwei Fingern an den Mützenrand.
    Jo, sagte der Großvater, jeht mal an die frische Luft. Hier drinnen is et ävver och ze wärm. Wie einen Kranken führte der Onkel den mageren Verwandten nach draußen. Was um alle Welt hatte der Onkel in Rußland gemacht, daß er an meiner ersten heiligen Kommunion in Tränen ausbrechen mußte? Er war doch wie alle anderen zur Kommunion gegangen, also auch zur Beichte, wo ihm, was immer er getan haben mochte, vergeben worden war. Von Gott selbst! Was mochte der Onkel verbrochen haben, daß seine Reue größer war als göttliche Vergebung? Wieder seine Zustände, sagte die Tante, die habe er, seit er aus dem Krieg zurück sei. Nahm ihren Mann fest untern Arm und führte ihn mit Onkel Schäng nach Hause.
    Wochen später brachte ich Onkel Mätes eine Hose des Vaters zum Flicken. Ich traf ihn allein in seinem winzigen Häuschen, das er auf einer kümmerlichen Parzelle mit Hilfe von Verwandten und Bekannten hochgezogen hatte. Onkel, fragte ich, wat häst de in Rußland jedonn? Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Kinder hatten zu antworten, wenn sie gefragt wurden. Die Fragen stellten die Erwachsenen. Onkel Mätes, der kaum aufge-blickt hatte, als ich eingetreten war, sprang behende auf die Füße und sah auf mich hinunter. Kenk, sagte er, und sein hageres Gesicht verkniff sich, bis es alle Gutmütigkeit verlor. Wer Scheck desch dann?
    De Mama, sagte ich. Met dä Bochs.
    Dat seh isch, sagte der Onkel. Isch mein, wo häs du Blaach dann dat met Rußland her?
    Avver Onkel, dat häs de doch sälvs verzällt, op minger Kommunion.
    Kall nit, sagte der Onkel. Do han esch mesch verschluck. Daröm sin mer rusjejange. Esch brooht fresche Luff. Su, un dat es för desch. Der Onkel drückte mir einen Groschen in die Hand. Koof dir jet ze lutsche, dann muß de nit mi froge. De Bochs es am Samsdaach fädisch.
    Ich vergaß die Sache bald. Sich zu verschlucken hatte wirklich nichts zu bedeuten.
    War jemand krank, hieß es im Dorf, der is nit viel mi wert. Für den Großvater, so die Verwandtschaft, jov mer kenne Penne mi. Er lag schon wieder im Bett, lange bevor die letzten Onkel und Tanten abgefahren waren. Müde hatte er mir ein paarmal zugeblinzelt, auch die Hände hinter die Ohren gelegt und damit gewackelt, und ich hatte getan, als müßte ich lachen. Manchmal, das wußte ich schon, ist eine Lüge richtiger als die Wahrheit. Auf dem Weg ins Schlafzimmer hörte ich durch die Tür sein unterdrücktes Stöhnen. Er stöhnte jetzt fast jeden Tag, ächzte wie einer, der eine schwere Arbeit zu verrichten hat. E Wunder, hatte die Großmutter gesagt, dat he diese Daach noch erläv hät.
    Auf meinem Kopfkissen lag ein Päckchen. Dat es sescher vom Opa, schloß der Bruder von dem roten Pergamentpapier, aus dem der Großvater unsere Drachen baute. Es war ein Großvaterkästchen.
    Was auch immer wir mit dem Großvater auf unseren Spaziergängen sammelten, stets hatte er ein Extrataschentuch dabei für Porzellan- und Glasstücke, die wir von Äckern und Feldwegen lasen. Im Winter leimte er Kistchen aus Sperrholz zusammen, überzog sie mit Fensterkitt und preßte die Scherben in die weiche, graue, streng riechende Masse, die zwischen den Stücken zuunregelmäßigen Rändern aufquoll. Manchmal brachte uns Friedel eine zerbrochene Tasse mit Blumenmuster, und der Großvater klopfte vorsichtig Rosen und Vergißmeinnicht für den Deckel aus dem Porzellan. War der Kitt getrocknet,

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