Das verbotene Land 2 - Drachensohn
hineinstürmten.
Eine wundervolle Vorstellung, mehr aber auch nicht. Zu viele Menschen ringsumher, deren Stimmengewirr ihn umgab. Ihr Gestank erfüllte die Luft. Er malte sich aus, wie er sich verwandelte, wie er in einem Wirbel orangeroter, von der Sonne vergoldeter Schuppen aufsteigen würde – ein Wesen aus einer Traumwelt, ein legendäres Ungeheuer, ein Drache, der Tod und Zerstörung brachte. Er stellte sich die Panik, das Chaos vor.
Drakonas warf einen Blick auf seine staubigen Stiefel mit den abgestoßenen Zehen und den in nur wenigen Monaten abgelaufenen Absätzen. Er war der Zweibeiner, und so war er zu diesem Namen gekommen. Für Schuhleder gab er mehr Geld aus als für alles andere in dieser Menschenwelt.
Mit einem ergebenen Seufzer machte er sich auf den Weg, immer dem Karren nach, der hier hastig durch das Gras gezogen worden war.
6
Bellona hatte alles getan, was Drakonas sich eben ausgemalt hatte, mit einer Ausnahme: Den Karren hatte sie stehen lassen. Als sie von dem Unglück gehört hatte, das Nem widerfahren war, hatte sie vor lauter Schreck den Kopf verloren und völlig überstürzt gehandelt. Ein solches Verhalten passte nicht zu ihr, und sie war über sich selbst erstaunt, doch sie konnte nicht anders.
Früher hatte Bellona die Kriegerinnen im Königreich Seth befehligt, wo Melisande Hohepriesterin gewesen war. Beide hatten unwissentlich dem Drachen Maristara gedient. Bellona war früh zur Kriegerin ausgebildet worden. Stets auf Verteidigung bedacht zu sein, war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, und sie hatte sich hinter ihrem Schild sicher gefühlt. Seit Melisandes Tod hatte sie geglaubt, dass nichts ihre Verteidigung durchbrechen könnte.
Doch als Drakonas berichtet hatte, was Nem auf dem Markt zugestoßen war, hatte der Schreck sich wie eine Lanze in ihr Herz gebohrt.
Bellona staunte über den Schmerz, denn sie hatte geglaubt, sie könnte nichts mehr fühlen. Sie hatte Melisande so tief betrauert, dass sie nichts mehr hatte fühlen wollen, nie wieder.
Bis zu diesem Augenblick hatte Bellona nicht gewusst, wie viel sie für Nem empfand. Bei seiner Geburt war er ihr gleichgültig gewesen. Der vorzeitige Tod seiner Mutter, ihrer geliebten Melisande, hatte ihr den Säugling aufgezwungen. Bellona hatte diese Bürde abgelehnt, doch sie hatte der Sterbenden versprochen, für deren Söhne zu sorgen, für dieses Kind und seinen Menschenzwilling. Als Kriegerin war ein Versprechen am Sterbebett ihr heilig.
Wenn sie an jene ersten Monate mit dem kleinen Nem zurückdachte, kehrte sofort der brennende Schmerz des Verlustes zurück, an dem sie beinahe erstickt war. Ihr Leid hatte ihr die Kehle zusammengeschnürt und den Brustkorb in eiserne Bande gelegt. Es war so schlimm gewesen, dass sie oft lieber gestorben wäre als weiterzuleben. Ohne Nem hätte sie sich vielleicht wirklich aufgegeben, doch um des Babys willen hatte sie weiterleben müssen. Er war so hilflos und sie eine so unzureichende Ersatzmutter.
Nem wäre tatsächlich beinahe gestorben, denn Bellona hatte keine Ahnung, wie man ein Kind aufzog. Bis sie ein Bauernmädchen gefunden hatte, das gegen Wildbret seine Amme wurde, war der Kleine halb verhungert gewesen. Bellona hatte seinen Unterleib stets fest gewickelt, so dass das etwas einfältige Mädchen nie gemerkt hatte, dass es keineswegs ein ganz normales, hübsches Kind mit blauen Augen und hellen Haaren stillte. Nachdem Nem entwöhnt war, war Bellona mit ihm tief in den Wald gezogen, wo sie seither lebten.
Den Namen Nemesis hatte sie ihm gegeben, weil sie wollte, dass er später einmal den Tod seiner Mutter rächte. Dazu musste er sich in der Menschenwelt zurechtfinden, worauf Bellona ihn vorbereitete, so gut sie es vermochte. Sie lehrte ihn, sich auf sich selbst zu verlassen, keine Angst zu haben und sich mit einem unsichtbaren Schild zu umgeben, der keine Gefühle zuließ. Dass er sich hinter diesem Schild versteckte, begriff sie nicht, denn ihr war ebenso wenig klar, dass sie selbst sich dahinter verbarg.
Nachdem Drakonas ihr von Nems Missgeschick erzählt hatte, war Bellona nur noch von dem Gedanken an Flucht erfüllt gewesen.
Dem Jahrmarkt entkommen, Drakonas entkommen.
Die Kriegerin gab Drakonas die Schuld an der Tragödie, der Melisande zum Opfer gefallen war. In Bezug auf Nem traute sie ihm nicht über den Weg. Bellona war der einzige Mensch auf der Welt, der die Wahrheit über Drakonas wusste – dass er ein Drache in Menschengestalt war. Diese Wahrheit hatte er ihr
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