Das verbotene Land 3 - Drachenbruder
Kehle wie zugeschnürt.
»Ja«, bestätigte Nem. »Aber vielleicht verstehen sie uns.«
Während er die schlafenden Kinder ansah, öffnete er seine Gedanken für sie. Herzeleid sah einen kleinen Jungen, der in einer Höhle hockte. Seine Beine waren mit schlecht sitzenden Wollhosen bedeckt, und seine Füße steckten in übergroßen Lederstiefeln. Er saß in der Mitte der Höhle im Dunkeln und umschlang seinen kleinen Körper mit beiden Armen. In der Ferne rief eine Frauenstimme seinen Namen. Der Junge antwortete nicht.
»Du solltest dich sputen«, mahnte Nem. »Die Krieger werden bald hier sein.«
Seine Schwester zögerte noch einen Moment. Sie wünschte inständig, dass dies alles nicht wahr war. Aber all ihre Magie konnte ihr diesen Wunsch nicht erfüllen. So legte sie dem jüngsten Kind die Hand auf die Stirn, strich darüber und sagte mit erstickter Stimme: »Draga, Zeit zum Aufwachen.«
Der Kleine schlug die Augen auf. Er war etwa zwei Jahre alt, hatte einen Menschenkopf und einen Menschenleib, aber Arme, Beine und Schwanz wie ein Drache. Blinzelnd starrte er sie an, ohne Herzeleid richtig wahrzunehmen. Schon verzog er das Gesicht und wollte losweinen, doch seine Schwester brachte ihn zum Schweigen.
»Alles ist gut, Draga. Es ist alles gut. Bleib einfach still hier sitzen, während ich die anderen wecke.«
So ging sie von Kind zu Kind, weckte eines nach dem anderen und lockte sie aus ihren warmen Betten. Sie versuchte, ihre Gedanken zu beherrschen, damit sie kühles, ruhiges Blau und Grün ausstrahlten. Aber unter der Oberfläche brodelte rote Furcht, so dass ihre Farben ein hässliches Gemisch aus Lila und Braun darstellten. Die Gedanken der Kinder verschmolzen mit ihren. Sie hatten Angst, aber da sie die Gefahr und die Dringlichkeit spürten, waren die meisten still und taten, was man ihnen sagte. Bis alle Kinder geweckt waren, war auch Lucien zurück. Er brachte mehrere große Beutel mit allem Essbaren, was er so schnell hatte zusammenraffen können.
Nem hielt sich abwartend im Hintergrund. Unter den Kindern fühlte er sich sichtlich unwohl. Herzeleid und Lucien ordneten die Gruppe ohne viel Lärm und Geschubse zu einer Reihe. Die älteren Kinder nahmen die jüngeren auf den Rücken.
Herzeleid hob Draga hoch. Der Kleine klammerte sich mit beiden Händen an ihrem Hals fest. Lucien nahm das letzte Kind. Nem trug die Vorräte.
»Schnell jetzt, Kinder«, drängte Herzeleid und führte sie durch die Tür auf den dunklen Gang hinaus. »Folgt Nem. Er kennt den Weg.«
Anstatt zu gehorchen, blieben die Kinder stehen. Aus großen, ernsten Augen sahen sie ihre Schwester an. Menschen können ihre Kinder belügen. Drachen nicht. Herzeleids verwirrte, verängstigte Farben wirbelten durch ihre Köpfe.
»Herzeleid«, sagte ein kleines Mädchen mit Drachenbeinen wie denen von Nem, »wo gehen wir hin?«
Ihre Schwester versuchte, sich eine Antwort auszudenken, die sie nicht erschrecken würde. Noch ehe ihr das gelang, hockte sich Nem vor das Mädchen, damit er auf gleicher Augenhöhe war.
»Manche glauben, dass wir kein Recht haben zu leben, weil wir anders sind als sie«, sagte er leise. »Diese Leute wollen uns etwas antun. Wir gehen weit weg, dorthin, wo sie uns nicht finden können.«
Das verstanden die Kinder. Herzeleid hatte versucht, sie von den grausamen Bemerkungen und hässlichen Kommentaren abzuschirmen, welche die Menschen von sich gaben, wenn sie glaubten, dass die Kinder es nicht hörten. Anscheinend war ihr das weniger gut gelungen, als sie geglaubt hatte.
Nem blinzelte in den Raum zurück, wo die Kinder geschlafen hatten. »Herzeleid, können diese Krieger eine Illusion durchschauen?«
»Ja«, sagte sie, denn sie glaubte zu wissen, worauf er hinauswollte. »Aber nur wenn sie mit einer Illusion rechnen. Was sie für real halten, wird ihnen auch real erscheinen.«
»Gut.« Er lächelte sie an. »Dann steck die Kinder wieder ins Bett.«
Herzeleid verstand, was er meinte, und begann, ihre Magie zu wirken.
Nem und Lucien führten die Kinder durch den Tunnel.
Leise huschten die Drachenkinder durch die Gänge des Palasts unter dem Berg. Herzeleid und Nem liefen voran, Lucien bildete die Nachhut. Durch diese Gänge war bereits Drakonas gelaufen. Er hatte Nem erzählt, dass der Drache sie nicht benutzte.
Dennoch gab es eine gefährliche Stelle. Nem wusste noch, dass sich der Gang, den sie benutzten, etwas weiter vorne mit einem Gang der Menschen kreuzte. Als sie sich dieser Stelle näherten, teilte
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