Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
werden herausgefiltert. Es ist, als hätte es dieses Ereignis niemals gegeben.«
Malone sah den Schmerz in Nis Augen. »Waren Sie damals dort?«
Ni nickte. »Ich habe noch immer den Geruch in der Nase, den Gestank der Exkremente von einer Million Menschen. In den Monaten davor hatten Müllwerker versucht für Sauberkeit zu sorgen, aber sie hatten nie Schritt halten können. Als die Menschen schließlich flohen, blieb nur ihr Abfall zurück. Ein schrecklicher Gestank.« Ni hielt inne. »Durch den Tod noch verschlimmert.«
Malone hatte über das Massaker gelesen. Er hatte ein Video gesehen, in dem eine Panzerkolonne über die Straße rollte und ein junger Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose ihr mit zwei Einkaufstaschen in den Händen in den Weg trat. Als die Panzer um ihn herumfahren wollten, sprang der Mann wieder davor. Würden Sie ihn überrollen? Würden die Soldaten ihn erschießen? Das Duell dauerte mehrere angespannte Minuten, dann wurde er weggeschafft.
Malone berichtete Ni von seiner Erinnerung.
»Ich war da«, erzählte Ni. »Ich habe das Duell beobachtet. Viele waren bereits gestorben. Viele weitere würden noch sterben. Die ganze Zeit dachte ich an den Namen der Straße, wo sich das alles ereignete – Chang’an, Straße des Ewigen Friedens. Welche Ironie.«
Da war Malone ganz seiner Meinung.
»Es hat zwei Tage gedauert, alle Leichen mit Lastwagen fortzuschaffen«, erzählte Ni. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Und der Westen weiß nicht, dass die Regierung nicht zuließ, die Verwundeten in den Krankenhäusern zu behandeln. Sie wurden abgewiesen. Wie viele wegen dieser Grausamkeit gestorben sind, werden wir niemals erfahren.«
»Das klingt, als wäre Ihnen das alles sehr unter die Haut gegangen.«
»Es hat mich verändert. Für immer.«
Das glaubte Malone ihm. Der Schmerz, den er in Nis Augen gesehen hatte, ließ sich nicht vorspielen. Vielleicht war dieser chinesische Politiker doch anders?
»Wer hat meinen Jungen?«, fragte Sokolov.
»Einige außergewöhnlich schlechte Menschen«, antwortete Ni. »Eunuchen. Ich dachte, dass es die gar nicht mehr gibt. Hätten Sie mir vor vier Tagen von ihnen erzählt, hätte ich Ihnen geantwortet, das sei unmöglich. Jetzt weiß ich, wie sehr ich mich irren kann.«
»Wissen wir sonst noch irgendetwas über die Halle für die Bewahrung der Harmonie?«, fragte Cassiopeia.
»Man hat mir gesagt, dass der Zugang für die Öffentlichkeit nicht frei ist. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. In China gibt es Tausende von Orten mit beschränktem Zugang. Dieses Gebiet hier ist umstritten. Wir haben die Kontrolle darüber, während Pakistan und Indien darum kämpfen. Solange die Kämpfe auf der Südseite des Gebirges bleiben, was in der Regel der Fall ist, sparen wir uns eine Verteidigung.«
Die Triebwerke wurden gedrosselt, und sie verloren allmählich an Höhe. Draußen war es stockdunkel.
»Was ist mit dem Parteigeneralsekretär?«, fragte Malone.
Ni saß da, starrte vor sich hin und schien in Gedanken versunken.
Das Flugzeug sank weiter.
»Der ist vor einigen Stunden in Kaschgar gelandet.«
Malone hörte die Skepsis in seiner Stimme. »Was ist los?«
»Ich hasse es, wenn man mich belügt«, sagte Ni. »Pau und der Generalsekretär haben mich belogen. Ich fürchte, dass ich von beiden benutzt werde.«
»Das ist kein Problem«, sagte Malone. »Solange Sie Bescheid wissen.«
»Aber es gefällt mir trotzdem nicht.«
Malone musste eine Bemerkung loswerden. »Ihnen ist gewiss klar, dass Tang möglicherweise weiß, wohin wir fliegen. Es gibt keinen Grund, warum er das nicht wissen sollte.« Er zeigte auf Sokolov. »Er wird ihn zurückhaben wollen.«
Der Russe richtete sich bei dieser Aussicht sichtlich erbost auf.
»Es kann in dieser Gegend nicht allzu viele Flugplätze geben«, fügte Malone hinzu. »Tang hat das mit Sicherheit überprüft.«
»Was haben Sie im Sinn?«, fragte Ni.
»Ein eigenes kleines Täuschungsmanöver.«
67
Malone blickte nach unten auf Yecheng. Die Stadt lag am Südrand der Taklamakan-Wüste und stieß ihrerseits im Süden ans Gebirge. Ni hatte erklärt, an diesem Knotenpunkt von Straßen und dem Zusammenlauf von Flüssen lebten zwanzigtausend Menschen. Vor Jahrhunderten waren von hier die Karawanen nach Indien aufgebrochen. Heute war Yecheng nur noch eine Marktstadt, und 1970 hatte man zur Förderung des Handels einen kleinen Flugplatz gebaut.
»Sieht so aus, als läge der Landeplatz ein paar Meilen von der
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