Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
Fluch zu vermeiden, kritisierte jede neue Dynastie die vorhergehende. Die Säuberung war so vollständig, dass man sogar das Schriftzeichensystem änderte, um das Entziffern vergangener Leistungen zu erschweren. Erst in den letzten paar Jahrzehnten hatten Gelehrte wie der Experte, der ihm heute Abend zur Seite stand, gelernt, die verschollenen Schriften zu lesen.
»Sind sie hier?«, fragte Tang.
»Lassen Sie mich Ihnen zeigen, was ich gefunden habe.«
Der Experte hob eines der brüchigen Seidentücher hoch.
Staubfahnen schwirrten durch die Luft wie wütende Geister.
Qin Shi hatte persönlich dafür gesorgt, dass keine der Schriften seiner Zeit seine Herrschaft überdauerte, und befohlen, dass alle Manuskripte außer solchen, die sich mit Medizin, Landwirtschaft oder Weissagungen beschäftigten, verbrannt werden sollten. Es ging ihm darum, »das Volk unwissend zu machen« und zu verhindern, dass »die Vergangenheit Zweifel an der Gegenwart sät«. Nur der Kaiser durfte eine Bibliothek besitzen, und Wissen sollte ein kaiserliches Monopol bleiben. Gelehrte, die diesem Erlass zuwiderhandelten, wurden hingerichtet. Insbesondere alles, was Konfuzius geschrieben hatte, wurde sofort der Zerstörung überantwortet, da dessen Lehren der Philosophie des Ersten Kaisers entgegengerichtet gewesen waren.
»Hören Sie einmal zu«, sagte der Experte. »Konfuzius starb vor langer Zeit, und seine weisen Worte gingen verloren. Seine siebzig Schüler gingen dahin, und die große Wahrheit wurde verfälscht. Daher gibt es fünf Versionen der Annalen, das Buch der Lieder existiert in vier verschiedenen Fassungen, und das Buch der Wandlungen wurde in unterschiedlichen Traditionen überliefert. Geschickte Taktierer stritten sich, was echt und was gefälscht sei, und die Worte des Meisters verkamen zu einem großen Durcheinander. Das bereitete dem Kaiser Sorgen, und so verbrannte er die Schriften, damit das einfache Volk unwissend bliebe. Er bewahrte jedoch die ursprünglichen Gedanken des Meisters im Palast auf, und sie begleiteten ihn im Tod.«
Das bedeutete, dass alle sechs der großartigen Manuskripte des Konfuzius hier zu finden sein sollten.
Das Buch der Wandlungen, ein Handbuch der Weissagungen. Das Buch der Urkunden , das sich mit den Reden und Taten der legendären Sagenkönige der alten Zeiten beschäftigte. Das Buch der Lieder mit mehr als dreihundert Versen voller versteckter Bedeutungen. Die Frühlings- und Herbstannalen , erschöpfende geschichtliche Aufzeichnungen von Konfuzius’ Heimatstaat. Das Buch der Riten , das Verhaltensgrundsätze für jedermann, vom Bauern bis zum Herrscher, lehrte. Und schließlich das Buch der Musik. Dessen Inhalt war unbekannt, da es nicht erhalten war.
Tang wusste, dass die Han-Dynastie, die dem Ersten Kaiser folgte und vierhundertfünfundzwanzig Jahre Bestand hatte, versucht hatte, den von Qin Shi angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Damals hatte man viele der konfuzianischen Texte gesammelt. Doch keiner wusste, ob diese späteren Ausgaben die Originale korrekt wiedergaben. Der Fund einer vollständigen, unberührten Ausgabe der konfuzianischen Texte wäre eine Sensation.
»Wie viele Manuskripte liegen eigentlich hier?«, fragte Tang gelassen.
»Ich habe mehr als zweihundert unterschiedliche Texte gezählt.« Der Experte hielt inne. »Aber keiner stammt von Konfuzius.«
Tangs Befürchtungen wuchsen.
Konfuzius war die latinisierte Bezeichnung, die die Jesuiten im siebzehnten Jahrhundert einem Weisen gegeben hatten, den seine Schüler im fünften Jahrhundert vor Christus unter dem Namen Kong Fu Zi gekannt hatten. Seine Gedanken hatten in Gestalt von Sprichwörtern überlebt. Der Kern seiner Überzeugungen schien darin zu bestehen, dass der Mensch versuchen solle, auf gute Weise zu leben. Er solle sich immer menschlich und höflich verhalten, fleißig arbeiten und die Familie und die Regierung ehren. Den Wert des Vorbilds der alten Könige hob er besonders hervor und legte der Gegenwart nahe, Kraft und Weisheit aus der Vergangenheit zu schöpfen. Er befürwortete eine streng gegliederte Gesellschaft, doch das Mittel, um diese Ordnung zu erreichen, war nicht Gewalt, sondern Mitgefühl und Achtung.
Qin Shi war kein Konfuzianer.
Der Erste Kaiser hatte vielmehr dem Legalismus angehangen.
Dieser Gegenphilosophie zufolge waren nackte Gewalt und reiner Schrecken die einzige legitime Basis der Macht. Sie befürwortete eine absolute Monarchie, eine zentralisierte Verwaltung und die
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