Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
wahr. Was weißt du schon von uns.«
Vibeke nahm das halbfertige Kleid von der Schneiderpuppe und prüfte die Nähte.
»Ich will doch nur, dass du glücklich wirst. Ich möchte nicht, dass du im Alter einsam bist.«
»Du bist doch auch nicht einsam, oder?«
Die Frage brachte Vibeke aus dem Konzept.
»Ich hab nicht von mir gesprochen.«
»Ich werde nicht einsam sein. Ich war auch vor Bengt nicht einsam. Warum sollte ich …?«
Sie schaltete den Fernseher ein. Die Nachrichten. Nur ein Thema: Troels Hartmann auf der Pressekonferenz. Er werde den Lehrer Kemal nicht suspendieren.
»Warum denn nicht, um Himmels willen?«, sagte sie leise.
Im Fernsehen gab Hartmann die Antwort.
»Rahman Kemal wird weder beschuldigt, noch ist er verurteilt. Ich werde mich an keinem Rufmord beteiligen. Auch wenn Bremer ganz versessen darauf ist. Das soll er mit seinem Gewissen ausmachen, oder mit dem, was er dafür hält.«
Er hob die rechte Hand, eine Geste von Politikern in aller Welt.
»Eine Suspendierung erfolgt nur dann, wenn konkrete Beweise vorliegen.«
Er beugte sich vor und blickte ernst in die Kamera.
»Verbrecher zu überführen, ist Aufgabe der Polizei. Nicht der Politiker. Wir sollten uns nicht in die Polizeiarbeit einmischen, es sei denn, um jede erdenkliche Hilfestellung zu geben. Und das werden wir tun. Ich danke Ihnen.«
Etliche Reporter erhoben sich gleichzeitig und bombardierten Hartmann mit Fragen. Lund wünschte sich, sie hätte das mit dem Rekorder aufgenommen, sodass sie es Wort für Wort hätte abhören und jeden Unterton, jeden Ausdruck auf Hartmanns Gesicht registrieren können.
»Und wenn er das Mädchen doch ermordet hat?«, schrie ein Reporter.
»Soviel ich weiß«, antwortete Hartmann, »ist man hierzulande unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils. Das ist alles …«
»Das ist alles?«, murmelte Lund vor sich hin.
Dann war es vorbei. Weitere Nachrichten des Tages. Nahost. Die Wirtschaftskrise. Sie schaltete den Fernseher aus. Merkte, dass der Raum leer und dunkel war. Vibeke war ohne ein Wort zu Bett gegangen. Sie war allein.
SONNTAG, 9. NOVEMBER
Trüber Morgen. Lund ging zu Fuß ins Präsidium und ließ sich vom Leiter der Nachtschicht auf den neuesten Stand bringen. Eine Überwachungskamera in der Tankstelle hatte Kemal an dem Freitagabend, an dem Nanna verschwunden war, um zwanzig nach zehn dabei aufgenommen, wie er Kaffee kaufte. Etwa um dieselbe Zeit hatte er einen Anruf von einem Kartentelefon bekommen, aus einem Waschsalon in der Innenstadt, nicht weit von seiner Wohnung. Zwanzig Minuten bevor Nanna bei ihm aufgetaucht war. In der Wohnung war noch immer nichts Brauchbares gefunden worden. Doch wenn sie beweisen konnten, dass er sich bei dem Telefonat mit ihr verabredet hatte, war er der Lüge überführt. Sonst hatte er nur noch bei dem Bodenleger angerufen, um ihn abzubestellen. Lund dachte noch darüber nach, als sie in ihr Büro schaute. Dort saß Bengt. Ein knappes Lächeln. Sie schloss die Tür, goss Kaffee aus der Thermoskanne ein.
»Wo kommst du denn her?«, fragte sie.
»Ich bin die Nacht durchgefahren.«
Sie reichte ihm eine Tasse, war aber in Gedanken noch bei Kemals Anrufen. Warum hätte Nanna in einen Waschsalon gehen sollen, statt ihr Handy zu benutzen?
»Wie war denn der Abend gestern?«
»Schön.« Er sah müde aus und ein bisschen schmuddelig von der Fahrt. Ausnahmsweise war einmal ein Anflug von Ärger in seinen ruhigen grauen Augen. »Ich hab die Leute um neun nach Hause geschickt.«
Sie trug wie am Vortag den schwarz-weißen Pullover von den Färöern. Wenn sie gewusst hätte, dass Bengt im Büro sein würde … Sie fuhr sich durchs ungewaschene Haar und dachte: Dann hätte ich ihn trotzdem angezogen. Er stand auf und legte ihr die Hände auf die Schultern. Professioneller Gesichtsausdruck. Sehr ernst. Väterlich.
»Hör mir zu, Sarah. Es ist gar nicht schwer. Du gehst einfach durch diese Tür raus und setzt dich ins Auto, und wir fahren nach Hause. Du kennst die Leute doch nicht mal. Was ist mit deiner eigenen Familie? Mit Mark? Er soll doch demnächst in Schweden mit der Schule anfangen.«
Lund ging an ihren Schreibtisch, nahm eine Akte.
»Ich hätte gern, dass du dir den Fall ansiehst. Hier ist der Obduktionsbericht. Und das hier haben wir an dem Kanal gefunden …«
»Nein!«
Fast ein Schrei. So laut war er noch nie geworden.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie ruhig.
»Du brauchst, du brauchst. Und was ist mit allen anderen?«
Sie hörte nicht
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