Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
weggehen!«
»Ich bin gleich wieder bei Ihnen. Wir sind hier. Sie sind in Sicherheit.«
»Sie dürfen nicht weggehen.«
»Alles in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Die verschrumpelten Finger ließen sie nicht los.
»Ich brauche meinen Stock.«
»Wo ist denn Ihr Stock?«
Sie atmete schwer, überlegte, sagte: »Draußen in der Diele.«
»Gut.« Ihr Tonfall ruhig, selbstbewusst. So fühlte sich Lund auch. »Schön hier sitzen bleiben.«
Sie ging zur Tür, dann nach links.
Küchengerüche. Abfluss, Essen. Die Katze. Noch eine alte Lampe, Schirm mit Troddeln, vergilbt, verblichen. Ein Stuhl, ein kleiner Schreibtisch. Gestreifte Vorhänge bis auf den Boden. Leicht bewegt, als sei das Fenster dahinter geöffnet.
Im November!
Lund verschränkte die Arme, überlegte, machte ein paar Schritte und zog den Vorhang beiseite. Der Schmerz in ihrem Arm war wie ein Wespenstich, schnell und bösartig. Ein Mann kam hinter den Streifen hervor, vor den schwachen Lichtern hinter dem Fenster nur als Silhouette erkennbar. Er schlug mit dem rechten Arm besinnungslos um sich. Noch ein stechender Schmerz.
Lund schrie: »Zurück! Polizei! Gehen Sie zurück!«
Sie tastete hektisch nach ihrer Waffe. Sie stieß gegen die Wand. Der Mann kam auf sie zu. Und jetzt fiel das Licht auf ihn. Sie sah, dass er ein Teppichmesser in der Hand hielt – kurze Klinge, spitz, scharf. Bedrohlich. Er fluchte, schwang das Messer, kam ihr so nahe, dass sie den Luftzug an der Wange spürte. Ein wutverzerrtes, wahnsinniges Gesicht, offener Mund, grinsend, gelbe Zähne. Er brüllte. Ein weiterer Hieb durch die Luft …
Ihre Hand schloss sich um den Pistolengriff. Sie hob die Waffe, zielte direkt auf sein Gesicht. John Lynges Augen verengten sich. Er schwitzte. Wirkte krank. Geistesgestört.
»Ganz ruhig, John. Ich tue Ihnen nichts.« Von Meyer kein Laut. Sie wusste, womit er beschäftigt war. Lynge wich einen Schritt zurück. Ihre Augen passten sich dem schwachen Licht an. Sie sah seine Schultern, seine Arme. Ließ die Pistole nicht sinken.
»Ich hab nichts getan!«
Er hat Angst, dachte sie. Das war gut.
»Das habe ich auch nicht gesagt, Lynge.«
Sprich ihn weiter mit dem Namen an. Versuch weiter, die Spannung rauszunehmen. Er fing an, sich hin und her zu wiegen, schluchzend, die Hände vor dem Gesicht. Die Klinge war noch immer da. Wusste er das?
»Sie glauben mir ja doch nicht.«
»Ich höre Ihnen zu. Aber legen Sie das Messer weg.«
Er drohte ihr mit dem Teppichmesser. Ließ sich von der Pistole nicht beeindrucken.
»Ich geh nicht wieder ins Gefängnis!«
Die Stimme eines Irren. Ein Verzweifelter.
»Ich will nur mit Ihnen reden, John. Okay? Lassen Sie uns reden. Die Schule …«
Verkrampft und wütend, zitternd, aufs Äußerste erregt, schrie Lynge: »Mir ist schlecht geworden. Ich bin ins Krankenhaus. Als ich zurückkam, war das Auto weg! Vielleicht, vielleicht …«
»Ja?«
»Vielleicht hab ich den Schlüssel verloren, als ich kotzen musste. Was weiß ich.«
»Welchen Schlüssel?«
»Den Autoschlüssel! Sie hören mir nicht zu!«
Er wurde immer wütender.
»Doch. Ihnen ist schlecht geworden, ich hab’s gehört, Lynge.«
Er machte einen Schritt nach links. Sie sah ihn in dem orangefarbenen Licht von der Straße.
»Ihnen ist schlecht geworden, und Sie sind ausgestiegen. Legen Sie das Messer hin, und wir unterhalten uns weiter, ja?«
»Ich geh nicht wieder ins Gefängnis. Die werden wissen …«
»Das müssen Sie auch nicht.«
»Lynge!«
Eine harte Männerstimme aus der Diele. Lund holte tief Luft. Schaute hin. Es war Meyer. Pistole im Anschlag. Zielte auf John Lynges Kopf. Schussbereit.
»Messer fallen lassen«, sagte er langsam und drohend.
»Alles okay, Meyer«, sagte sie. »Ich hab alles unter …!«
Lynge rannte bereits. Meyer ihm nach. Zwei dunkle Gestalten, die durchs Zimmer liefen. Ein Schrei, splitterndes Glas. Lautes Fluchen. Dann draußen ein schrecklicher Aufprall. Das ekelerregende Geräusch, wenn Fleisch und Knochen aufs Pflaster krachen.
»Meyer?«, sagte sie.
Eine Gestalt am Fenster. Lund ging auf sie zu.
»Meyer?«, wiederholte sie.
John Lynge war bewusstlos, er hing an Schläuchen und Apparaten und wurde in höchster Eile auf einer fahrbaren Trage durch einen Krankenhausflur gerollt. Es war zehn Uhr abends. Zum dritten Mal fragte Lund: »Wann kann ich mit ihm sprechen?«
Der Arzt wurde nicht langsamer, warf ihr nur einen Blick zu und fragte: »Ist das Ihr Ernst?«
»Kommt er durch?«, fragte
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