Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
vielen anderen Dingen. Die sie sich noch nicht bewusstgemacht hatte. Was aber nicht ausbleiben würde.
»Nanna war noch nicht tot, als das Auto in den Kanal fuhr.«
Ihre Stimme war ausdruckslos und ruhig, ihr Gesicht ebenfalls.
»Was?«
»Sie war nicht tot. Sie lag in dem Kofferraum. Eingeschlossen. Und ist ertrunken.«
Pernille ging in Nannas Zimmer.
Kleider. Habseligkeiten. Verstreut, danach schreiend, weggeräumt zu werden. Aufgabe einer Mutter … Sie fing an, die Bücher umzustellen, die Kleider von hier nach dort zu legen. Tränen traten ihr in die hellen Augen. Dann hielt sie inne und schlang die Arme um den Oberkörper.
»Wir fahren jetzt«, sagte Theis Birk Larsen, der in der Tür stand. »Und damit basta.«
Er stand neben dem Aquarium, das sich Nanna gewünscht hatte. Pernille war fasziniert von den darin eingeschlossenen goldenen Tieren. Die hinausschauten und nichts von dem begriffen, was hinter der Glasscheibe lag.
»Nein«, sagte sie. »Wir bleiben hier. Ich will sehen, wie sie ihn finden. Ich will sein Gesicht sehen.«
Immer rundherum schwammen sie, verwirrt von den eigenen Spiegelbildern, ohne zu denken, nirgendwohin.
»Die müssen ihn finden, Theis. Sie werden ihn finden.«
Ein zwischen ihnen schwebender Augenblick. Wie es noch nie einen gegeben hatte. Er nestelte an seiner Wollmütze.
»Wir bleiben hier«, wiederholte Pernille Birk Larsen. »Ich hol die Jungs rauf. Du das Gepäck.«
Lynge war aufgewacht. Um den Kopf einen Verband, im Arm Infusionsnadeln. Frische Schnittwunden und Kratzer bedeckten die alte Narbe an seiner Wange. In seinem grauen Schnurrbart hingen noch Krümel von geronnenem Blut.
»Lynge?«, sagte Lund.
Bewegung. Atmen. Die Augen halb geöffnet. Sie wusste nicht, ob er sie hören konnte. So wenig wie der ungeduldige Arzt, den sie unter Druck gesetzt hatte, damit er sie zu Lynge ließ.
»Tut mir leid, was passiert ist. Verstehen Sie, was ich sage?«
Seine Augenlider flatterten.
»Ich weiß, dass Sie dem Mädchen nichts getan haben.«
Er war an Geräte mit leuchtenden Zahlen und Diagrammen angeschlossen.
»Ich brauche dringend Ihre Hilfe. Ich muss wissen, was in dem Gymnasium passiert ist. Wem Sie begegnet sind. Wo Sie den Autoschlüssel verloren haben.«
Seine Augen bewegten sich. Wandten sich ihr zu.
»Sie haben den Wagen geparkt und sind mit den Plakaten rein. Und dann sind Sie zur Turnhalle. Ist Ihnen da schlecht geworden?«
Lynge hustete, würgte. Ein Laut, ein Wort.
»Wie bitte?«
Wieder ein Laut. Ein Auge ging weit auf. Ein Blick. Angst und Schmerz.
»Keller.«
»Da sind Sie mit den Plakaten hin. Haben Sie dort den Schlüssel verloren?«
»Der Junge ist sauer geworden. Wollte mich nicht reinlassen.«
»Lynge.« Sie stand auf, beugte sich ganz nahe zu seinem Mund herab. Sie musste verstehen, was er sagte. »Wer ist sauer geworden? Was für ein Junge?«
Wieder dieses Keuchen. Sie konnte ihn riechen.
»War es der Fahrradkeller?«
»Der daneben.«
Lund versuchte, sich das muffige Labyrinth vorzustellen.
»Der Raum daneben?«
»Der Heizungskeller.«
Ein Geräusch. Die Tür ging auf. Der Arzt. Alles andere als erfreut.
»Wem sind Sie im Heizungskeller begegnet, Lynge?«
Lund nahm die Fotos der Schüler aus ihrer Tasche. Schulfotos. Zeigte auf Oliver Schandorff, fragte: »War’s der hier? Oder der? Bitte schauen Sie hin.«
Wieder das Keuchen. Dann: »Nein.«
»Sind Sie sich sicher? Sehen Sie genau hin.«
Der Arzt stand jetzt am Bett, fuchtelte mit den Armen: »Okay. Das war’s. Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen …«
»Noch eine Minute.« Lund rührte sich nicht von der Stelle. »Nur …«
Sie stieß ihn zurück, hielt das Foto über den Patienten im Bett.
»Ich zeige mit dem Finger drauf, Lynge. Auf einen nach dem anderen. Nicken Sie, wenn es der Richtige ist, okay?«
Einer nach dem anderen.
Als sie auf einen hochgewachsenen dunkelhaarigen Schüler zeigte – ansprechendes Äußeres, Durchschnittstyp –, nickte John Lynge.
»Den haben Sie im Heizungskeller gesehen?«
»Das reicht jetzt«, sagte der Arzt und packte sie am Arm.
»Lynge?«
Das Auge ging auf, richtete sich auf sie. Sein Kopf bewegte sich, ein fast unmerkliches Nicken.
Lund stand auf und schüttelte die Hand des Arztes ab.
»Schon gut«, sagte sie. »Bin schon weg.«
Meyer stand auf dem Schulhof und rauchte, als er ihren Anruf entgegennahm.
»Du musst noch mal in den Keller«, sagte Lund.
Schweigen.
»Soll das ein Witz sein?« Er sah zu den Technikern von der
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