Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
aus Ihrem Büro«, sagte sie, und es war keine Frage. »Rie Skovgaard.«
Hartmann legte den Kopf schräg und sah sie an.
»Können Sie auch sehen, was ich in den Taschen habe?«
Er hatte das Essen und den Wein kaum angerührt. Er wirkte, als könnte er die ganze Nacht hier sitzen bleiben. Und reden, reden, reden.
»Mein Lebensgefährte ist heute aus Schweden rübergekommen«, sagte Lund. »Ich muss los. Hier …«
Sie holte Geld hervor, für die Rechnung.
»Nein, nein, nein«, sagte er mit einer abwehrenden Geste. »Das übernehme ich.«
»Einverstanden. Aber nur, wenn Sie zahlen. Und nicht der Steuerzahler.«
»Ich zahle selbst, Sarah«, sagte Hartmann und zückte eine Kreditkarte.
»Danke, Troels. Gute Nacht.«
Bengt schlief sofort ein, wie immer. Lund stieg aus dem Bett, zog sich ein Sweatshirt an und ging zum Fenster, setzte sich in den Korbsessel und rief Meyer an.
»Was hast du rausgekriegt?«, flüsterte sie.
»Nicht viel.«
Meyer sprach ebenfalls leise. Es klang merkwürdig.
»Aber es muss was geben.«
»Die Spurensicherung hat einen Computer und Proben mitgenommen.«
Das Essen mit Hartmann ging ihr nicht aus dem Kopf.
»Hat sich in Nannas Zimmer irgendwas gefunden, was darauf hindeuten könnte, dass sie mit jemandem verabredet war?«
»Hat das nicht Zeit bis morgen? Ich bin fix und fertig.«
»Die muss eine Verabredung gehabt haben.«
»Ja, Lund. Mit Oliver. Aber du lässt mich ja nicht mit ihm reden.« Geräusche im Hintergrund. Babygeschrei. »Da haben wir’s. Jetzt hast du das ganze Haus aufgeweckt.«
Sie ging ins Esszimmer, machte Licht, setzte sich an den Tisch.
»Erinnern sich die Eltern an irgendwas Ungewöhnliches?«
»Ich frag sie morgen, okay?« Ein Grunzen. »Irgendein Idiot aus unserem Team hat der Mutter gesagt, dass Nanna in dem Kofferraum ertrunken ist. Die ist am Durchdrehen.«
Lund fluchte.
»Lass mal. Ich rede mit ihnen.«
»Kann ich jetzt auflegen?«
»Ja«, sagte Lund. »Natürlich.«
Sie ging an Marks Zimmer vorbei. Er schlief noch tief und fest. Bengt war wach, stellte sich aber schlafend. Allen hier ging es gut. Sie brauchten sie überhaupt nicht.
DONNERSTAG, 6. NOVEMBER
Es war ein trüber, feuchter Morgen mit Nieselregen. Sie frühstückten zusammen, dann fuhr sie Bengt zum Bahnhof. Sie sprach über das Wochenende. Wen sie in Schweden sehen würden. Was sie machen würden.
Er hörte schweigend zu. Dann sagte sie: »Die Housewarming-Party …«
»Vergiss die Party. Ich hab sie abgesagt.«
War da ein leiser Unterton von Missmut in seiner Stimme? Schwer zu sagen. So etwas wie Ärger war ihm eigentlich völlig fremd.
»Wir warten besser, bis dein Fall abgeschlossen ist, Sarah. Dann …«
»Ich brauche nicht zu warten. Hab ich dir schon gesagt. Wir kommen am Samstag, so oder so.«
Er schaute aus dem Fenster auf den Verkehr hinaus.
»Ich will nicht die ganzen Leute einladen, wenn du’s dann doch nicht schaffst.«
Das war deutlich.
»Aber natürlich komme ich! Ich freu mich darauf, deine Eltern zu sehen. Und …« Sein kleines Gedicht über schwedische Namen von neulich kam ihr wieder in den Sinn. »Ole und Missan und Janne und Pann und Hasse und Basse und Lasse …«
Er musste lachen. Das schaffte sie also noch.
»Es heißt Bosse, nicht Basse.«
»Sorry. Ich lern ja noch …«
»Also gut. Wenn du dir sicher bist …«
»Ganz sicher! Versprochen.«
Sie setzte ihn am Hauptbahnhof ab und fuhr nach Vesterbro weiter.
Lund saß auf Nannas Bett und versuchte sich zu erinnern, wie es gewesen war, ein Teenager zu sein. Das Zimmer war klein und hell, unaufgeräumt, chaotisch. Tragetaschen von billigen Textilläden, Schulhefte, Bücher und Zeitschriften, Make-up und Schmuck … ein Spiegelbild von Nanna Birk Larsens Persönlichkeit, ihrem Leben. Sie blätterte das Tagebuch durch, fand nichts. Nichts in den Schulbüchern und auf den Fotos an der Kork-Pinnwand über dem kleinen Schreibtisch.
Lund dachte daran, wie sie selbst in diesem Alter gewesen war, ein linkisches, mürrisches Kind. Ihr Zimmer war noch unordentlicher gewesen. Aber irgendwie anders. Ausdruck ihres einzelgängerischen, introvertierten Wesens. Hier, dachte sie, hatte Nanna sich einen Ort der Vorbereitung geschaffen. Eine persönliche Garderobe, aus der sie dann hervorkam, um die Welt draußen zu bezaubern, mit ihrer Schönheit, ihren Kleidern, ihrer offensichtlichen, funkelnden Intelligenz. Alles, was dem Teenager Sarah Lund gefehlt hatte, besaß dieses Mädchen im Überfluss. Und dazu
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