Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
alles durchzusehen, was er benötigt.«
»Wie heißt der Mann?«
Koch schwieg einen Moment. Ein besorgter Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
»Henning Kofoed. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er den Aufsatz nicht zurückgebracht hat. Er ist normalerweise sehr penibel. Und hochintelligent …«
»Warum haben wir nicht mit ihm gesprochen?«, unterbrach Lund.
»Weil er Nanna nicht unterrichtet hat. Er ist nur vormittags hier. Er …«
Lund nahm ihr Handy, den Notizblock und ihre Tasche.
»Wir brauchen seine Adresse«, sagte sie.
Hartes Holz und Korbstühle. Kerzen. Goldkreuze. Gedämpftes Licht. Ein Kruzifix. Pernille und Theis Birk Larsen saßen stumm nebeneinander. Sie umklammerte das weiße Kleid. Frisch gewaschen und gebügelt, ein Duft nach Blumen und Sommer. An die Bleiglasfenster über ihnen prasselte gleichmäßig der Winterregen. Nach einer Weile erschien ein Mann. Schwarzer Anzug, weißer Bart, ein freundliches Gesicht, routiniertes Lächeln. Er nahm das Kleid, machte ihnen ein Kompliment zu ihrer Wahl. Sagte: »Zehn Minuten.« Ging wieder hinaus.
Es kam ihnen viel länger vor. Sie wanderten von Stuhl zu Stuhl, starrten an die Wände. Er holte seine schwarze Wollmütze hervor, drehte sie in den Händen. Sie sah es, versuchte, nicht hinzuschauen. Dann kam der Bestatter zurück. Die Tür stand halboffen. Dahinter gedämpftes, weiches Licht. Er winkte sie herein. Später, als sie in dem roten Van langsam auf der regenglänzenden Straße dahinfuhren, sagte Pernille: »Sie hat schön ausgesehen.«
Theis Birk Larsen schaute nach vorn, in den grauen Regen hinaus. Ihre Hand irrte zu ihm hinüber, berührte die rauhe, vertraute Wärme seiner Wange. Er lächelte.
»Wir müssen noch die Thermoskannen holen«, sagte sie. »Lotte kann uns zwei leihen.«
Er klopfte auf eine Kontrollleuchte im Armaturenbrett.
»Ich brauche Scheibenreiniger.«
Eine kleine Tankstelle. Pkw und Transporter. Männer und Frauen. Das normale Leben, die tägliche Routine. All das umgab sie, als wäre nichts geschehen. Nichts verändert, nichts zerbrochen, nichts verloren. Er ging nicht zur Zapfsäule. Marschierte geradewegs in den Shop, hastete zur Toilette. Dort, eingeschlossen an dem anonymen Ort, in seiner schwarzen Jacke und der Wollmütze, beugte sich Theis Birk Larsen über das Waschbecken, schluchzte, zitterte, heulte wie ein Kind.
Zwanzig Minuten wartete sie. Niemand näherte sich. Niemand sprach. Dann kam er heraus, Augen und Wangen rot. Klopapierfitzel in den Bartstoppeln, wo er sich das Gesicht abgewischt hatte. Die Tränen noch nahe, die Trauer noch im Gesicht. In seinen Händen eine kleine Plastikflasche. Blau.
»Hier«, sagte er und legte ihr den Scheibenreiniger in den Schoß.
Henning Kofoed hauste in einer Zweizimmerwohnung in der Bahnhofsgegend. Eine verwahrloste Junggesellenbude, wie Lund nur je eine gesehen hatte. Überall lagen Bücher herum, und in der Küche schimmelten Essensreste auf verkrusteten Tellern. Kofoed war ein zwielichtig wirkender Vierziger mit einem verwilderten braunen Bart und struppigen Haaren. Er zog an einer übelriechenden Pfeife und sah sie schon beim Eintreten voller Misstrauen an.
»Wieso soll der Aufsatz bei mir sein?«
»Weil Sie ihn mitgenommen haben«, sagte Meyer. »Für Ihre … Was war’s noch? Sprachwissenschaftliche Untersuchung. Da geht’s drum, wie die Leute reden, oder?«
»Grob gesagt …«
»Sehr grob gesagt, allerdings … Wo ist der verdammte Aufsatz, Henning?«
»Ich muss ihn irgendwie verlegt haben. Tut mir leid.«
Im Schlafzimmer stand ein Computer. Meyer ging hinüber und begann herumzustöbern. Kofoed folgte ihm, zunehmend nervös.
»Haben Sie gelesen, was Nanna geschrieben hat?«, fragte Meyer.
»Ach, wissen Sie, ich lese so viel …«
»Einfache Frage. Man braucht keinen Abschluss in Linguistik, um sie zu verstehen. Haben Sie Nannas Geschichte gelesen?«
Schweigen.
»Ich bin Sprachspezialist. Ich untersuche Wörter. Nicht unbedingt ganze Sätze. Wussten Sie, dass es das Wort Ciabatta früher gar nicht gab?«
Meyer ballte die Fäuste und stieß einen Fluch aus.
»Zum Teufel mit Ciabatta! Suchen Sie den verdammten Aufsatz.«
»Okay, okay.«
Er schlängelte sich ins andere Zimmer zurück und begann in den überall verstreuten Akten und Unterlagen zu wühlen. Die Wohnung sah aus wie ein Archiv, in das eine Bombe eingeschlagen hat. Meyer sah Lund an, lächelte, zeigte auf den Boden.
»Haben Sie ihn weggeworfen?«
»Nein, ich werfe nie was weg.«
Er
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