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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Verteidigung fintenreicher, das Gefühl der Gefahr verliert sich, und bei gleichen Chancen gehört dem der Vorteil, der am besten kühles Blut bewahrt.
    Das kühle Blut von Monsieur Domini war eiskalt.
    Â»Nun«, wiederholte er nach geraumer Zeit, »wo haben Sie die Nacht verbracht, woher haben Sie das Geld, was ist mit dieser Adresse?«
    Â»Was denn, was denn!« begehrte Guespin in ohnmächtiger Wut auf, »ich sagte Ihnen doch bereits, daß Sie mir nicht glauben werden!«
    Der Untersuchungsrichter wollte, so schien es, eine weitere Frage stellen, doch Guespin kam ihm zuvor.
    Â»Nein, Sie werden mir nicht glauben«, sagte er noch einmal, und in seinen Augen blitzte es zornig auf, »wie sollten auch Männer wie Sie Männern wie mir glauben. Ich habe eine Vergangenheit, nicht wahr, einen Lebenswandel, wie Sie es nennen. Na gut, ja, es stimmt, ich bin ein Wüstling, ein Spieler, ein Trunkenbold, ein Faulenzer, na und? Stimmt, ich bin mal wegen nächtlicher Ruhestörung und ungebührlichen Betragens belangt worden..., aber was beweist das schon? Ich habe mein Leben weggeschmissen, aber das geht nur mich etwas an. Meine Vergangenheit! Habe ich nicht bitter dafür bezahlen müssen?«
    Guespin war wieder völlig Herr seiner Sinne geworden, was bei ihm zu einer plötzlichen Beredsamkeit führte; er drückte sich so ungestüm aus, daß die Zuhörer unwillkürlich davon gefangengenommen wurden.
    Â»Ich war nicht immer Dienstbote für andere«, fuhr er fort, »mein Monsieur war wohlhabend, fast reich, bei Saumur besaß er riesige Gärten, und er galt als einer der besten Gärtner von Maine-et-Loire. Ich erhielt eine gediegene Schulbildung, und als ich sechzehn war, gab man mich zu den Herren Leroy in Angers, bei denen ich das Gärtnerhandwerk lernte. Nach vier Jahren galt ich in dem Fach als ein vielversprechendes Talent. Zu meinem Unglück starb mein Monsieur, der schon einige Jahre Witwer war. Er hinterließ mir für hunderttausend Francs erstklassige Böden; ich verkaufte sie für sechzigtausend und ging nach Paris. Ich war wie im Rausch zu dieser Zeit. Ich spürte eine unbändige Sehnsucht, mich zu vergnügen, die durch nichts zu beruhigen war, ich wollte genießen, ich hatte Geld und war kerngesund. Paris schien mir damals für meine Laster gerade der richtige Ort zu sein, und ich stellte mir vor, daß meine sechzigtausend Francs ewig reichen würden.«
    Guespin hielt inne, tausend Erinnerungen aus jener Zeit mußten ihm durch den Kopf gehen. Er murmelte:
    Â»Das war eine schöne Zeit. Meine sechzigtausend Francs reichten acht Jahre«, sagte er dann laut. »Ich hatte keinen Sou mehr, wollte aber mein gewohntes Leben fortsetzen... Sie verstehen, nicht wahr? Zu dieser Zeit wurde ich eines Nachts verhaftet und drei Monate eingesperrt. Oh, Sie können meine Akte auf der Polizeipräfektur einsehen. Und wissen Sie, was Ihnen diese Akte sagen wird? Sie wird Ihnen sagen, daß ich, nachdem ich das Gefängnis verließ, in diesem abscheulichen und schändlichen Pariser Elend versunken bin. In diesem Elend, wo man nicht mehr ißt, sondern nur noch säuft, wo man keine Schuhe mehr besitzt und sich die Ellbogen an den Schanktischen der Wirtschaften abwetzt; in diesem Elend, das sich vor den Türen der öffentlichen Ballsäle drängelte, das im trüben nach ein paar Brosamen fischt. Meine Akte wird Ihnen sagen, daß ich unter Zuhältern, Spitzbuben und Dirnen gelebt habe... und das ist die Wahrheit.«
    Der ehrwürdige Bürgermeister war entsetzt.
    Großer Gott! dachte er. Was für ein wilder und zynischer Dieb. Und wenn ich bedenke, daß man jeden Tag der Gefahr ausgesetzt ist, solche Tagediebe als Dienstboten in sein Haus aufnehmen zu müssen!
    Der Untersuchungsrichter schwieg. Er wußte wohl, daß sich Guespin in dem seltenen Zustand befand, da sich ein Mann unter dem unwiderstehlichen Drang zu beichten zu Aussagen hinreißen läßt, die sein Inneres bloßlegen.
    Â»Aber es gibt eine Sache«, fuhr der Unglückliche fort, »die Ihnen meine Akte nicht sagen wird. Sie wird Ihnen nichts davon sagen, wie einen dieses Leben anekelt, bis zum Selbstmord anekelt, durch den ich es zu verlassen suchte. Sie wird Ihnen nichts sagen über meine Anstrengungen und vergeblichen Versuche, ihm zu entfliehen, über meine Verzweiflung und meine Mißerfolge. Ach, gehen Sie,

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