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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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ihn immer, bis heute eben, für einen guten Kerl gehalten, obwohl er Wein, Weib und Gesang zu sehr liebte; er war vielleicht ein bißchen überheblich, was seine Bildung betrifft...«
    Â»Sie können sich zurückziehen«, sagte der Untersuchungsrichter und schnitt damit François das Wort ab.
    Der Kammerdiener verschwand.
    Währenddessen war Guespin allmählich zu sich gekommen. Der Untersuchungsrichter, Vater Plantat und der Bürgermeister belauerten interessiert jede Regung auf seinem Gesicht, während ihm Doktor Gendron den Puls fühlte.
    Â»Angst vor der Strafe!« murmelte der Bürgermeister.
    Â»Die Unschuld und die Unmöglichkeit, es zu beweisen«, flüsterte Vater Plantat.
    Der Untersuchungsrichter registrierte die beiden Bemerkungen, aber er äußerte sich nicht dazu. Seine Meinung stand noch nicht fest, und er wollte als Vertreter des Gesetzes und Diener der Gerechtigkeit nicht durch ein unbedachtes Wort ein vorschnelles Urteil fällen.
    Â»Fühlen Sie sich besser, mein Freund?« wurde Guespin von Doktor Gendron gefragt.
    Der Unglückliche nickte. Er warf einen Blick um sich, in dem all die Angst eines Mannes lag, der weiß, daß man ihm ein schwerwiegendes Verbrechen vorwirft, und bat: »Zu trinken.«
    Man reichte ihm ein Glas Wasser, und er stürzte es in einem Zug hinunter. Dann stand er auf.
    Â»Sind Sie jetzt in der Lage, mir zu antworten?« fragte ihn der Untersuchungsrichter.
    Zunächst noch etwas wankend, fand er doch allmählich seine Haltung wieder. Er stand dem Untersuchungsrichter gegenüber und lehnte sich mit dem Rücken gegen ein Möbelstück. Das nervöse Zittern seiner Hände wurde schwächer, seine bleichen Wangen röteten sich wieder, und während er auf die Fragen des Justizbeamten antwortete, ordnete er seine Kleidung.
    Â»Sie wissen von den Vorfällen dieser Nacht?« begann der Richter. »Der Comte und die Comtesse de Trémorel wurden ermordet. Sie sind gestern mit allen Dienstboten des Schlosses nach Paris gefahren und haben sie auf dem Lyoner Bahnhof verlassen. Jetzt kommen Sie hier allein zurück. Wo haben Sie die Nacht verbracht?«
    Guespin senkte den Kopf und schwieg.
    Â»Das ist noch nicht alles«, fuhr der Richter fort, »gestern hatten Sie kein Geld, das ist erwiesen, einer Ihrer Kollegen hat es bestätigt. Heute findet sich in Ihrem Portemonnaie eine Summe von hundertsiebenundsechzig Francs. Woher haben Sie das Geld?«
    Die Lippen des Beschuldigten bewegten sich, als wolle er etwas sagen, doch schien er es sich plötzlich anders überlegt zu haben. Er schwieg weiterhin.
    Â»Etwas anderes kommt noch dazu«, sagte der Richter. »In Ihrer Tasche haben wir die Adresse eines Eisenwarengeschäftes gefunden.«
    Guespin wirkte niedergeschlagen und sagte nur:
    Â»Ich bin unschuldig.«
    Â»Beachten Sie«, entgegnete darauf der Richter lebhaft, daß ich Sie noch nicht unter Anklage gestellt habe. »Sie wußten, daß der Comte im Laufe des Tages eine größere Summe erhalten hat?«
    Ein bitteres Lächeln spielte um Guespins Lippen, und er antwortete:
    Â»Ich weiß genau, daß alles gegen mich ist.«
    Es war ein angespanntes Schweigen, das über dem Salon lag. Der Arzt, der Bürgermeister und der Friedensrichter ließen sich kein Wort und keine Bewegung entgehen. Das lag sicher daran, daß es auf der Welt vielleicht nichts Aufregenderes gab als diese unerbittlichen Duelle zwischen einem Mann der Gerechtigkeit und dem Verdächtigen eines Verbrechens. Die Fragen mögen unbedeutend erscheinen, die Antworten banal; doch Fragen und Antworten verdecken entsetzliche Hintergedanken. Die kleinste Geste, der flüchtigste Gesichtsausdruck kann unerhörte Bedeutung erhalten. Ein rasches Aufblitzen des Auges enthüllt einen gerade von dem anderen verpaßten Vorteil; ein unmerkliches Zittern in der Stimme kann möglicherweise ein Geständnis sein.
    Ja, es ist ein Frageduell, vor allem die erste Befragung. Zu Beginn tasten sich die Gegner im Kopf ab, sie schätzen sich ab und sie schätzen sich ein; Fragen und Antworten umkreisen einander noch wie die Degenspitzen zweier Feinde, die den besten Ansatzpunkt zum Zustoßen suchen und sich ihrer Kraft noch nicht bewußt sind; doch bald wird der Kampf lebhafter geführt; wie am Degengeklirr erhitzen sich die Gemüter am Wortgeplänkel, der Angriff wird drängender, die

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