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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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unglücklich, so tiefunglücklich.«
    Der unglückliche Bürgermeister war kaum wiederzuerkennen, so hatte er sich verändert. Nein, das war kein Mann mehr, der lächelnd und selbstsicher Spaß an der Welt hatte, dessen Haltung und Wichtigkeit jedem wie eine Herausforderung erscheinen mußte. In wenigen Stunden war er um zwanzig Jahre gealtert. Er war gebrochen, sein Sinn verwirrt, und er konnte nur ununterbrochen das eine Wort wiederholen, dessen Bedeutung ihm sicher entfallen sein mußte: »Unglücklich! Unglücklich!«
    Vater Plantat führte Monsieur Courtois wieder zum Kanapee, setzte sich neben ihn, ergriff seine Hände und bemühte sich, den grenzenlosen Schmerz des Mannes zu lindern. Er erinnerte den Unglücklichen daran, daß ihm seine Frau zur Seite stand, um mit ihm gemeinsam diesen Verlust zu beweinen. Und hatte er nicht noch eine andere Tochter, der er alle Liebe widmen mußte?
    Aber der gebrochene Mann lebte nur seinem Schmerz und war außerstande, etwas anderes zu vernehmen. »Ach, mein Freund«, erwiderte er seufzend, »Sie wissen noch nicht alles. Wenn sie hier gestorben wäre, mitten unter uns, sorgfältig gehegt und gepflegt bis zum letzten Atemzug, so wäre meine Niedergeschlagenheit zwar unendlich, aber doch nichts im Vergleich zu dem, was mich jetzt schier umbringt. Wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten...«
    Vater Plantat hatte sich erhoben, als ob ihn das, was er gleich hören würde, schon im voraus erschreckte.
    Â»Aber wer weiß«, fuhr der Bürgermeister fort, »wo und wie sie umgekommen ist! O meine arme Laurence, niemand, der dein Todesröcheln vernommen und versucht hätte, dich zu retten! Was ist aus dir bloß geworden? Du warst doch so jung und glücklich!«
    Â»Sie wissen, daß ich Ihr bester Freund bin«, versuchte ihn Vater Plantat zu beruhigen. »Sprechen Sie, haben Sie Vertrauen zu mir, sagen Sie mir alles.«
    Â»Also gut«, begann Monsieur Courtois, »Sie sollen es wissen...«
    Doch die Tränen erstickten erneut seine Worte. Sich schneuzend, reichte er Vater Plantat einen zusammengefalteten und tränenfeuchten Brief.
    Â»Hier, lesen Sie..., ihr letzter Brief...«
    Vater Plantat näherte sich dem Tisch, auf dem die Kerzen brannten, und nicht ohne Mühe – die Schrift war an mehreren Stellen von Tränen verwischt worden – gelang es ihm, Folgendes zu entziffern:
    â€ºIhr lieben, vielgeliebten Eltern,
    verzeiht, ich beschwöre Euch, verzeiht Eurer unglücklichen Tochter den Schmerz, den sie Euch bereitet.
    Ja, ich habe mich schuldig gemacht, aber die Sühne ist so schrecklich, o mein Gott!
    An einem Tag der Verwirrung habe ich mich durch eine schlimme Leidenschaft hinreißen lassen, ich habe alles vergessen, das Beispiel und die Ratschläge meiner guten und gesegneten Mutter, die heiligsten Pflichten und Eure Fürsorge.
    Ich habe nicht vermocht, nein, ich vermochte dem nicht zu widerstehen, der meine Knie mit Tränen benetzte und mir ewige Liebe schwor und der mich jetzt verlassen hat. Jetzt ist alles aus, ich bin verloren, entehrt. Ich bin schwanger, und es wird mir unmöglich, das entsetzliche Vergehen länger zu verbergen.
    Oh, ihr lieben Eltern, verflucht mich nicht. Ich bin Eure Tochter, ich beuge mich meiner Schuld, ich werde meine Schande nicht überleben. Wenn Euch dieser Brief ausgehändigt wird, werde ich aufgehört haben zu leben. Ich werde das Haus meiner Tante verlassen und dort Zuflucht gesucht haben, wo mich niemand kennt. Dort werden mein Leid und meine Verzweiflung enden.
    Gott befohlen, oh, ihr meine lieben Eltern, adieu. Ihr, geliebte Mutter, und Ihr, teurer Monsieur, verzeiht mir, vergeßt mich. Euch gilt der letzte Gruß und der letzte Gedanke Eurer lieben armen Laurence...
    Eine kalte, stumme und schreckliche Wut hatte von dem Friedensrichter Besitz ergriffen. Als er zu Ende gelesen hatte, sagte er nur ein Wort:
    Â»Elender!«
    Monsieur Courtois hörte den Ausruf.
    Â»Jawohl!« schrie er. »Dieser Elende! Dieser infame Verführer, der meinem Schmuckstück, das doch nichts vom Leben wußte, diese Dinge ins Ohr geflüstert hat, die einem das Herz höher schlagen lassen. Dieser elende Trémorel! Niemand anders kann es gewesen sein. Man verläßt doch kein Mädchen, das eine Million Mitgift hat! Der Kerl war nicht frei, er war verheiratet! Er hat meine Tochter getötet...!« Das

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