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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Schweigen, das seinen Worten folgte, bewies ihm, daß auch die ihn Umgebenden so dachten.
    Â»Ich war ja mit Blindheit geschlagen!« rief er aus. »Denn ich empfing ja diesen Mann bei mir, ich schüttelte ihm nichtsahnend die Hand, ich nannte ihn meinen Freund. Oh, nicht wahr, ich werde mich rächen.«
    Doch da fiel ihm das Verbrechen von Schloß Valfeuillu ein, und mit enttäuschter Stimme sprach er wie zu sich selbst: »Aber ich kann mich ja nicht einmal rächen! Ich kann ihn nicht mit eigenen Händen erwürgen, ich kann mich nicht daran ergötzen, wie er um Gnade winselt. Er ist tot. Von Mördern umgebracht, die weniger schurkisch sind als er.« Umsonst versuchten der Doktor und Vater Plantat den unglückseligen Bürgermeister zu beruhigen, er hörte nicht auf, sich am Klang seiner eigenen Worte in etwas hineinzusteigern.
    Â»O Laurence, o meine Liebe, warum hattest du kein Vertrauen. Du hast meinen Zorn gefürchtet, als ob ein Monsieur jemals aufhören könnte, seine Tochter zu lieben. Selbst wenn du verloren, erniedrigt, herabgesunken wärst, würde ich dich lieben. Bist du nicht von mir, bist du nicht ich? Ach, wenn du wüßtest, was das ist: das Herz eines Monsieurs. Ein Monsieur verzeiht nicht, er vergißt. Geh, du könntest doch glücklich werden. Dein Kind? Na und, es wäre auch meins gewesen. Es wäre hier groß geworden. Abends hätte ich es auf die Knie genommen, wie ich dich auf die Knie genommen habe, als du noch klein warst. Ach, mein Töchterchen, hast du denn Angst vor der Welt? Der bösartigen, übelredenden, klatschsüchtigen Welt? Wir wären weggegangen. Ich hätte Orcival verlassen, mein Bürgermeisteramt aufgegeben. Wir hätten uns am äußersten Ende Frankreichs, in Deutschland oder gar Italien niedergelassen. Mit Geld ist alles möglich. Alles... nein. Ich habe Millionen, aber keine Tochter mehr.«
    Er verbarg das Gesicht zwischen seinen Händen, die Tränen erstickten seine Stimme.
    War das derselbe Mann, der noch Stunden zuvor auf der Freitreppe von Valfeuillu den Gaffern seiner Gemeinde mit banalen Sätzen gekommen war?
    Ja. Aber Gefühl macht einander gleich und verwischt die Unterschiede des Geistes und der Intelligenz. Die Verzweiflung eines Genies drückt sich kaum anders aus als die Verzweiflung eines Dummkopfes.
    Selbst Monsieur Lecoq, ein Mann, der aus Berufung und von Berufs wegen noch stoischer als Vater Plantat war, schien ergriffen. Er vergaß seine Zurückhaltung und ging auf Monsieur Courtois zu.
    Â»Ich, Lecoq«, sagte er zu dem Bürgermeister, »Lecoq von der Sûreté, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, den Körper von Mademoiselle Laurence wiederzufinden.«
    Â»Ja, nicht wahr«, sagte Courtois und klammerte sich wie ein Ertrinkender an diesen Strohhalm eines zweifelhaften Glücks, »wir werden sie wiederfinden. Man sagt ja, der Polizei ist nichts unmöglich, sie sieht, sie weiß alles. Sie sind ein braver Mann. Verzeihen Sie, ich habe Sie in meinem Stolz so schlecht empfangen, so ungerecht behandelt. Dumme Vorurteile. Hochnäsiges Provinzlergehabe. Und dabei habe ich noch ein Loblied auf diesen elenden Trémorel gesungen. Danke nochmals, wir werden Erfolg haben, Sie werden sehen, wir helfen uns, wir werden die gesamte Polizei mobilisieren, wir werden Frankreich umkrempeln; wenn Sie Geld brauchen, ich habe es, ich habe Millionen, nehmen Sie es...«
    Er war mit seinen Kräften am Ende, er wankte und sank erschöpft auf das Kanapee.
    Â»Er darf nicht länger hier bleiben«, murmelte Doktor Gendron Vater Plantat ins Ohr, »er muß sich schlafen legen, Nervenfieber, nach dieser Erschütterung wundert mich das nicht.«
    Der Friedensrichter ging augenblicklich zu Madame Courtois, die noch immer in dem betreffenden Sessel ruhte. Ihrem Schmerz hingegeben, schien sie nichts wahrgenommen, nichts gehört zu haben.
    Â»Madame«, sagte er zu ihr, »Madame...«
    Sie zuckte zusammen und sprang auf. »Es ist mein Fehler«, sagte sie, »mein großer Fehler, eine Mutter muß im Herzen ihrer Tochter wie in einem Buch lesen.«
    Auch der Doktor war näher getreten. »Madame«, sagte er in einem Ton, der keine Widerrede duldete, »Sie müssen Ihren Mann dazu bringen, daß er sich unverzüglich schlafen legt. Sein Zustand ist ernst, und etwas Schlaf ist unbedingt erforderlich. Ich werde Ihnen eine Arznei

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