Das Verbrechen von Orcival
Verbrechen enthalten.«
Trotz der bedeutungsschwangeren Blicke und der unverhüllten Aufforderung, sich zu erklären, schwieg der Friedensrichter. Er wirkte wie hundert Meilen vom gegenwärtigen Schauplatz entfernt, und sein in die Ferne schweifender Blick schien im Nebel der Vergangenheit vergessene Ereignisse aufspüren zu wollen.
Nach einem kurzen Zögern entschloà sich Monsieur Lecoq, zum letzten Schlag auszuholen.
»Eine Vergangenheit«, sagte er, »deren Bürde so entsetzlich ist, daà sich ein junger, reicher und glücklicher Mensch zu einem Verbrechen hinreiÃen läÃt und im vorhinein beschlieÃt, anschlieÃend unterzutauchen, alles aufzugeben, seine Persönlichkeit, seine Ehre, seinen Namen! Eine Vergangenheit, die ein junges Mädchen von zwanzig in den Selbstmord treibt!«
Vater Plantat war aufgesprungen, er wirkte bleicher und erregter als je zuvor.
»Ha!« schrie er aufgebracht. »Sie wissen nicht, was Sie sagen. Laurence hat von alledem nichts gewuÃt!«
Monsieur Gendron, der gewissenhaft den wahren Lecoq studierte, glaubte ein verschmitztes Lächeln über das intelligente Gesicht des Polizisten huschen zu sehen.
Der Richter indes hatte sich wieder gefangen und sagte würdig und gemessen:
»Es bedarf keiner List noch irgendeiner Anspielung, damit ich sagen soll, was ich weiÃ, Monsieur Lecoq. Ich habe Ihnen genug Wertschätzung und Vertrauen bewiesen, als daà Sie sich herausnehmen dürfen, mich mit dem schmerzlichen â wenn Sie so wollen, meinetwegen auch lächerlichen â Geheimnis zu überraschen.«
So groà auch Monsieur Lecoqs SelbstbewuÃtsein war, er schien etwas aus der Fassung geraten und wollte protestieren.
»Doch, doch«, kam ihm Vater Plantat zuvor, »Ihr detektivisches Genie hat Sie der Wahrheit auf die Spur gebracht. Aber Sie wissen nicht alles, und ich würde auch jetzt noch schweigen, wenn nicht die Gründe, die mich zum Schweigen veranlaÃten, aufgehört hätten zu bestehen.«
Er zog ein Geheimschubfach in seinem alten eichenen, neben dem Kamin stehenden Schreibtisch auf und entnahm ihm eine Akte von beträchtlichem Umfang, die er auf den Tisch legte.
»Es sind jetzt vier Jahre her, seit ich Tag für Tag die Entwicklung des Dramas verfolge, das heute nacht auf Schloà Valfeuillu im Blut geendet hat. Eigentlich war es zunächst nichts weiter als die Neugier des pensionierten Advokaten. Später hoffte ich, damit die Ehre und das Leben einer mir teuren Person zu retten.
Warum habe ich nichts von meinen Entdeckungen verlautbaren lassen? Das, meine Herren, ist das Geheimnis meines Gewissens, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Gestern noch schloà ich die Augen vor dem Unvermeidlichen, ich brauchte die brutale Zeugenschaft von Tatsachen...«
Es war Tag geworden. Auf den Gartenwegen zwitscherten die Amseln. Der Schotter auf der StraÃe nach Evry knirschte unter den Hufen morgendlicher Gespanne, mit denen die Bauern auf ihre Felder fuhren. Kein anderes Geräusch störte das tiefe Schweigen in der Bibliothek, nicht einmal das Rascheln der Seiten, die der Friedensrichter während seiner Lektüre umblätterte, und auch â von Zeit zu Zeit â das unterdrückte Stöhnen nicht, das aus der Kammer drang, in der Robelot hockte.
»Bevor ich beginne, meine Herren«, sagte Vater Plantat, »möchte ich mich erst einmal erkundigen, wie es mit Ihrer Ausdauer bestellt ist. Wir sind jetzt seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen...«
Aber der Doktor und der Polizeibeamte protestierten, sie brauchten keine Pause. Das Fieber der Neugier hatte die Erschöpfung verjagt. Endlich sollten sie den Schlüssel zu dem blutigen Geheimnis in der Hand halten.
»Sei es«, ergriff der Friedensrichter das Wort.
* * *
M it Sechsundzwanzig war der Comte Hector de Trémorel das vollendete Modell, das vollkommene Ideal des genuÃsüchtigen Lebemannes, wie man es nur in unserer Zeit trifft, sich und anderen völlig unnütz und nur dazu da, um sich an jedem und allem zu erfreuen.
Jung, sehr edel, elegant, millionenreich, von strotzender Gesundheit, vergeudete dieser letzte Sproà einer groÃen Familie wie von Sinnen seine Jugend und sein beträchtliches Vermögen. Allerdings brachte ihm diese Verschwendungssucht eine gewisse Berühmtheit ein. Man zählte seine Ställe auf, seine Kutschen, seine Bediensteten, sein Mobiliar, seine
Weitere Kostenlose Bücher