Das Verbrechen von Orcival
der Pariser Halbwelt sowohl wegen ihrer Toilette als auch wegen ihrer Schönheit durchschlagenden Erfolg.
Im klassischen Sinn des Wortes war sie allerdings weit davon entfernt, schön zu sein. Aber sie verkörperte den idealen Typus der »hübschen« Pariserin, ein Typ, der nicht wenige Verehrer hat. Sie hatte zarte Hände, einen zierlichen FuÃ, wunderbares kastanienbraunes Haar, weiÃe Zähnchen und vor allem groÃe schwarze schmachtende, zärtliche, provozierende Augen, die auch einen Stein erweichen konnten.
Mià Fancy war nicht gerade intelligent, aber sie verfügte über ein munteres Mundwerk und hatte schon immer begriffen, wie wichtig Kleidung war. Den Comte hatte sie auf einem öffentlichen Ball aufgelesen, wo er zufällig aufgekreuzt war, als sie ihr hübsches Tanzbein, das in durchbrochenen Schnürstiefeln steckte, schwang. In weniger als zwölf Stunden wechselte sie aus dem tristen Allerlei ihres Elends in einen Luxus, den sie sich selbst in kühnsten Träumen nicht vorzustellen wagte. Am Morgen noch auf der unsauberen Matratze einer Dachkammer zu zwölf Francs im Monat aufgewacht, schlief sie nun abends unter den Satinkissen eines Palisanderbettes ein.
Dieser überraschende Wechsel in ihrem Leben verwirrte sie jedoch nicht in dem MaÃe, wie man vermuten könnte. In Paris erwartet jedes halbwegs hübsche Mädchen voller Zuversicht ähnliche, wenn nicht noch märchenhaftere Abenteuer. Der reich gewordene Handwerker braucht fünfzehn Jahre, um sich an den würdigen Gehrock zu gewöhnen; die Pariserin wechselt ihr Kleid von heute auf morgen, um in Samt und Seide zu gehen, und man möchte schwören, sie habe das schon immer getragen.
Achtundvierzig Stunden hatten Mià Fancy in ihrer neuen Rolle genügt, um ihre Domestiken Manieren zu lehren: man gehorchte ihr blindlings, und sie lieà nach Belieben Schneiderinnen und Modistinnen anmarschieren.
Das erste Erstaunen über ein absolut neues Vergnügen verlor sich jedoch rasch wieder, denn bald verbrachte Jenny den gröÃten Teil des Tages allein in ihrem Appartement und langweilte sich. Ihr einziges Vergnügen â und selbst das war noch selten â bestand in einer Soirée bei irgendeiner Dame, die gesellschaftlich dieselbe Position wie sie bekleidete, oder einer Nacht, in der Bakkarat gespielt wurde, oder einem Souper, wo sie schon aus Langeweile den Speisen kräftig zusprach. Sie langweilte sich so sehr, daà sie Sehnsucht nach ihrer schmutzigen Gasse, nach ihrem engen Verschlag verspürte. Hundertmal wollte sie Trémorel deswegen Vorhaltungen machen, seinem Luxus, seinem Geld, ihren Domestiken entsagen und wieder ihr früheres Leben aufnehmen. Mehrmals schon hatte sie ihr Bündel geschnürt, doch die Eigenliebe hielt sie jedesmal davon ab, wieder ihr altes Dasein aufzunehmen.
Das war die Frau, bei der sich Hector um elf Uhr morgens einfand. Sicher, so früh erwartete sie ihn mitnichten, und sie war sehr überrascht, als er ihr eröffnete, daà er mit ihr frühstücken wolle, und sie bat, die Köchin zur Eile anzuhalten, da er nicht viel Zeit habe.
Noch nie hatte Mià Fancy ihren Geliebten so liebenswürdig erlebt, noch nie war er ihr so fröhlich vorgekommen. Als der Kaffee serviert wurde, hielt der Comte den Augenblick für gekommen, um zu reden.
»All das, mein Kind«, sagte er, »war dazu da, um dich auf eine recht überraschende Neuigkeit vorzubereiten. Ich bin ruiniert.«
Sie starrte ihn verwundert an und schien nicht zu begreifen.
»Ich habe gesagt ruiniert«, wiederholte er lachend, »ruiniert, wie man ruinierter nicht sein kann.«
»Ach, du machst dich über mich lustig, du scherzt!«
»Noch nie habe ich ernster gesprochen«, entgegnete Hector. »Das kommt dir unwahrscheinlich vor, nicht wahr? Nun, es ist aber so. Was willst du, das Leben ist wie eine Weintraube, deren einzelne Beeren man eine nach der anderen langsam iÃt, oder wie ein Glas Wein, das man mit einmal hinunterstürzt. Ich habe die zweite Methode gewählt. In meinem Glas waren vier Millionen, sie sind ausgetrunken. Ich bedaure es nicht, für mein Geld habe ich genug vom Leben gehabt. Aber jetzt bin ich ein Bettler. Zur Stunde wird bei mir alles gepfändet, ich habe keine Bleibe mehr, keinen Sou...«
Er redete und redete und berauschte sich an der Fülle seiner Gedanken, wobei er nicht etwa Komödie
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