Das Verbrechen von Orcival
von sich gab. Es ärgerte sie insgeheim, daà er in seiner Jugend nicht auch über die Stränge geschlagen hatte. Sie warf ihm vor, nicht gelebt zu haben. Dabei war auch er einmal nach Paris gegangen und hatte den Lebensstil seines Freundes Trémorel versucht. Doch nach sechs Monaten war er dessen überdrüssig geworden und nach Valfeuillu zurückgekehrt, um sich von den anstrengenden Genüssen zu erholen. Die Erfahrung kostete ihm hunderttausend Francs, und er bedauerte nicht, wie er sagte, um diesen Preis das studiert zu haben, was man gemeinhin »das Leben genieÃen« nannte.
Berthe erfreute sich der unausgesetzten und grenzenlosen Bewunderung Sauvresys. Sie brauchte nur einen Wunsch zu äuÃern, und er wurde auf der Stelle erfüllt, doch kam ihr dabei das blinde Umsetzen ihres Willens höchst unterwürfig vor. Ein Mann, so sagte sie sich, ist da, um zu kommandieren, und nicht, um zu gehorchen, er ist geboren, um Meister, und nicht, um Sklave zu sein.
Sie hätte einen Mann vorgezogen, auf den man hinter dem Fenster lauert; der mitten in der Nacht nach Hause kommt â hitzig und im Spiel verloren, betrunken und um sich schlagend, wenn man eine Szene machte. Ein Tyrann, gewiÃ, aber ein Mann.
Seines Mannes sicher sein, wirklich absolut sicher; zu wissen, daà man im Herzen dieses Mannes die einzige ist; nicht zweifeln müssen, kein Fehltritt oder ein alltäglicher Nebenflirt â das schien ihr entsetzlich, ja unerträglich. Wozu war man denn hübsch, witzig, jung, kokett? Und dabei hielt man ihr stets vor, daà sie die glücklichste aller Frauen sein müsse. Glücklich! Nun, es gab Augenblicke, wo sie ein Verlangen verspürte, wegzulaufen, dem Abenteuer, der Leidenschaft, dem Genuà nachzuspüren, all dem, was sie sich wünschte, all dem, was sie nicht hatte und nie haben würde. Abscheu vor dem Elend â denn das kannte sie zur Genüge â hielt sie davon ab. Und so spielte sie nach auÃen hin die perfekte Ehefrau, gab sich den Anschein leidenschaftlicher Liebe für ihren Mann. Das gelang ihr derart vollendet, daà jeder meinte: »Die schöne Berthe ist verrückt nach ihrem Mann.«
Sauvresy verbarg mitnichten seine Freude, wenn er lauthals verkündete: »Meine Frau betet mich an...«
Das also war die Situation auf Schloà Valfeuillu, als Sauvresy in Sèvres am Ufer der Seine seinen Freund Trémorel mit der Pistole in der Hand antraf.
An diesem Abend fehlte Sauvresy zum erstenmal seit seiner Hochzeit zur festgesetzten Stunde der Abendmahlzeit, obwohl er versprochen hatte, zum Essen pünktlich zurück zu sein. Endlich, gegen zehn Uhr abends, wurde die Tür zum Speisezimmer auf Valfeuillu aufgerissen. Auf der Schwelle stand lächelnd und froh gelaunt Sauvresy.
»Berthe«, sagte er, »ich führe dir jemanden zu, den du kennst, denn ich habe dir oft von ihm erzählt. Er ist mein ältester Freund.« Bescheiden beiseite tretend, zog er Hector ins Speisezimmer und sprach: »Madame Sauvresy, erlauben Sie mir, Ihnen Monsieur le Comte de Trémorel vorzustellen.« Berthe sprang errötend auf; ein unerklärliches Gefühl hatte sie gepackt, als stünde eine schreckliche Entscheidung vor ihr. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie verwirrt, ja eingeschüchtert und wagte nicht, ihre groÃen, hellblauen Augen zu heben.
»Monsieur«, stotterte sie, »Monsieur, glauben Sie..., als mein Mann hereinkam..., seien Sie willkommen.«
Natürlich kannte sie den Namen des Mannes, der da plötzlich in ihrem Salon aufgetaucht war. AuÃer dem, was sie von Sauvresy wuÃte, hatte sie oft über den Comte in der Zeitung gelesen, und auch alle ihre Bekannten auf den benachbarten Schlössern hatten von ihm erzählt.
Nach dem zu urteilen, was sie gelesen oder gehört hatte, muÃte der Träger dieses Namens eine auÃergewöhnliche, ja fast übernatürliche Persönlichkeit sein. Er war, wie es hieÃ, ein Held aus einem anderen Zeitalter, ein Verrückter, ein Lebemann; einer von den Männern, deren Auf und Ab den Biedermann erschreckt, den der SpieÃbürger für unmoralisch hält, dessen überschäumende Leidenschaften den engen Käfig der Vorurteile sprengen. Einer von den Männern, die andere beherrschen; vor denen man sich fürchtet, die wegen eines scheelen Blickes töten, denen das Glück stets hold ist, deren eiserne Gesundheit die
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