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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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sind nur die vier Prozent Zinsen.«
    Trémorel wußte, daß sein Freund reich war, aber er wußte nicht, daß er so reich war. Vielleicht war es eine unvernünftige Aufwallung von Neid, die ihn sagen ließ:
    Â»Sieh an! Und ich, der ich noch mehr hatte, habe heute morgen nicht mal gefrühstückt.«
    Â»Du Ärmster! Und da sagst du mir nichts! Stimmt, du bist in einem bedauernswerten Zustand, komm, komm schnell!« Und er zog ihn mit zu dem Restaurant.
    Wohl oder übel folgte Trémorel diesem Freund, der ihm das Leben gerettet hatte. Er hatte das Gefühl, bei einer schrecklich lächerlichen Situation überrascht worden zu sein. Ein Mann, der fest entschlossen ist, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, drückt ab, wenn man ihn anruft, und versteckt nicht seine Waffe. Unter all seinen Freunden war Sauvresy gewiß der einzige, der das nicht lächerlich fand.
    Aber in der Wirtschaft vor einem gedeckten Tisch sitzend, verwand Hector recht rasch diesen Eindruck. Er empfand jetzt eher dieses närrische, überreizte Gefühl, das nach einem Augenblick überstandener Gefahr folgt. Er war er, er war jung, er war aufrichtig. Er gestand Sauvresy alles, seine frühere Windbeutelei, sein Zurückweichen im letzten Augenblick, die Agonie im Hotel, die Wut, die Scham, die Angst...
    Â»Du bist mein Freund«, sagte er, »mein einziger Freund, mein Bruder!«
    Zwei Stunden saßen sie und redeten.
    Â»Und nun«, meinte Sauvresy, »machen wir folgendes. Du wirst für einige Tage untertauchen. Aber bevor du das tust, wirst du der Zeitung noch ein paar Zeilen schicken. Morgen werde ich mich um deine Angelegenheiten kümmern, ich kenne mich darin aus. Wir haben noch so viel, daß wir deine Gläubiger beruhigen können.«
    Â»Aber was wird aus mir?« fragte Hector, den der Gedanke, allein zu sein, erschreckte.
    Â»Wie! Aber ich entführe dich, zum Teufel, ich entführe dich zu mir nach Valfeuillu. Weißt du denn nicht, daß ich verheiratet bin? O mein Freund, es gibt keinen glücklicheren Mann als mich. Ich habe aus Liebe geheiratet, aus Liebe die schönste und beste aller Frauen. Du wirst ein Bruder für uns sein... Aber nun komm, meine Kutsche wartet draußen vor dem Gitter.«
    * * *
    V ater Plantat hielt inne. Seine Zuhörer hatten sich, seitdem er sprach, keine Geste, kein Wort entgehen lassen.
    Monsieur Lecoq hatte die ganze Zeit, während er zugehört hatte, überlegt und sich gefragt, woher diese überaus minutiösen Details wohl stammen mochten. Wer hatte diese schreckliche Biographie von Trémorel verfaßt?
    Sein Blick huschte über das Dossier, und er unterschied sehr genau, daß die Blätter nicht alle dieselbe Handschrift trugen.
    Aber schon fuhr der Richter fort: Berthe Lechaillu, die durch einen unverhofften Glücksfall Madame Sauvresy geworden war, liebte ihren Mann nicht.
    Dieses Mädchen eines armen Landschullehrers, deren verrückteste Vorstellungen kaum über die Stelle einer Unterlehrerin an einem Versauter Pensionat hinausgingen, war mit ihrer Lage unzufrieden. Absolute Herrscherin über die schönste Domäne der Gegend, von allem nur denkbaren Luxus umgeben, nach Belieben über ein beträchtliches Vermögen verfügend, geliebt, angebetet – sie jedoch fand sich eher beklagenswert.
    Dieses so wohlgeordnete, so beharrlich glückliche Leben ohne Sorgen, ohne Erschütterungen kam ihr stupid langweilig vor. Waren es denn nicht immer die gleichen faden Freuden, die in bestimmter monotoner Reihenfolge je nach den Jahreszeiten wiederkehrten? Man empfing Leute oder wurde von Leuten empfangen, man ritt, man jagte, man fuhr in der Kutsche spazieren. Und das sollte immerzu so gehen! Nein, das war nicht das Leben, von dem sie geträumt hatte. Sie war für stärkere und intensivere Genüsse geboren. Sie dürstete nach unbekannten Gefühlen und Aufwallungen, sehnte sich nach einer ungewissen Zukunft, nach dem Unvorhergesehenen, nach Abwechslung, nach Leidenschaften, nach Abenteuern.
    Und dann hatte ihr Sauvresy vom ersten Tag an mißfallen, und ihre geheime Abneigung wuchs in dem Maße, wie sie sich ihrer Macht über ihn bewußt wurde. Sie fand ihn gewöhnlich, nichtssagend, lächerlich. Die Schlichtheit seiner Manieren hielt sie für Einfalt. Wenn er redete, hörte sie nicht zu, denn in ihrer Weisheit fand sie, daß er nur langweiliges oder banales Zeug

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