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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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dachte er an den Artikel in der Zeitung, der ihm eben vor Augen gekommen war. Wem verdankte man die Kenntnis der Neuigkeit? Zweifellos Miß Fancy. Als man die Tür zum Speisezimmer geöffnet hatte und sie wieder zu Bewußtsein gekommen war, mußte sie sich, nachlässig gekleidet und tränenüberströmt, auf die Suche nach ihm gemacht haben. Wo war sie wohl zuerst hingegangen, als sie ihn auf dem Boulevard nicht mehr erblickte? Zu ihm nach Hause zunächst, dann in den Club, anschließend zu einigen Freunden.
    Und ganz gewiß war in dieser Welt an diesem Abend nur von ihm die Rede gewesen.
    Â»Haben Sie schon gehört...?«
    Â»Jaja, dieser arme Trémorel, sich einfach so aus dem Staube machen. Fabelhafter Bursche. Allein...«
    Er schien sie zu hören, diese Litaneien des »Allein...«, die von einem hämischen Lachen und von abfälligen Bemerkungen begleitet waren. Und dann verteilte man schon, ob nun sein Selbstmord bestätigt war oder nicht, sein Fell. Der eine würde seine Mätresse übernehmen, der andere seine Pferde kaufen, ein dritter das Mobiliar.
    Die Zeit verging. Das Vibrieren, das kurz vor dem Ingangsetzen des Läutwerkes einer Uhr anhebt, war zu hören. Zwölf Uhr.
    Der Comte erhob sich, griff nach seiner Pistole und legte sich dann aufs Bett.
    Der erste Schlag ertönte... Er schoß nicht.
    Hector war tapfer, und sein Mut stand außer Zweifel. Mindestens zehnmal hatte er sich duelliert, und stets hatte man seine Unbekümmertheit bewundert. An einem Tag hatte er seine Gegner getötet und war abends friedlich eingeschlafen. Man erzählte sich haarsträubende Sachen von ihm, die bewiesen, daß er keine Furcht vor dem Tode hatte.
    Gewiß, aber er schoß noch immer nicht.
    Das mag daher kommen, weil es zwei Arten von Mut gibt. Der eine, der falsche, glänzt von weitem wie der glitzernde Mantel eines Schauspielers, aber er muß dazu im Rampenlicht stehen, braucht die Hitze des Kampfes, die Wut, die Ungewißheit des Ausgangs – und vor allem die Galerie, die Beifall klatscht oder buht. Das ist der vulgäre Mut des Duellanten oder des Schnelläufers. Der andere, der richtige, drapiert sich nicht; er mißtraut der Öffentlichkeit, er gehorcht dem Gewissen und nicht der Leidenschaft, der Erfolg schert ihn nicht, er verrichtet sein Werk in aller Stille. Das ist der Mut des Starken, der kühn die Gefahr abschätzt und beschließt: Das werde ich machen! und es auch tut.
    Es war zwei Minuten nach Mitternacht, und Hector lag noch immer auf dem Bett, die Pistole an der Schläfe. Habe ich Angst? dachte er.
    Â»Ich kann nicht«, sagte er Augenblicke später, »ich kann nicht.«
    Es wurde eine schreckliche Nacht, eine Agonie, wie sie die zum Tode Verurteilten in ihrer Zelle erleben mußten. Er weinte vor Wut und Schmerz, er schrie in ohnmächtigem Zorn, er wimmerte und winselte um Erbarmen. Schließlich schlief er gegen Morgen erschöpft und gebrochen ein.
    Drei oder vier Schläge an der Tür rissen ihn aus einem von Alpträumen bevölkerten Schlaf. Er ging öffnen. Es war der Page, der nach seinen Wünschen fragte und beim Anblick dieses Mannes mit den in Unordnung geratenen Kleidern und dem zerzausten Haar verblüfft reagierte.
    Â»Ich brauche nichts«, erwiderte Hector, »ich gehe.«
    Er stieg die Treppe hinab. Ihm blieb gerade noch so viel Geld, um das Zimmer bezahlen und dem Pagen sechs Sou Trinkgeld geben zu können.
    Er verließ das Hotel, in dem er so gelitten hatte, und war mehr denn je entschlossen zu sterben; doch wünschte er einige Tage Aufschub, eine Woche, um sich wieder zu sammeln, um wieder zu sich zu kommen. Aber wie eine Woche lang leben? Er hatte keinen Centime mehr. Er war schon so weit, daß er nicht den zehntausend Francs nachtrauerte, die er Jenny geschenkt hatte. Er bedauerte weit weniger. Er bedauerte die zweihundert Francs, die er Jennys Dienstboten geschenkt hatte, die sechs Sou Trinkgeld für den Hotelpagen. Er dachte nicht mehr an die weggeworfenen Millionen, für ihn hatte der Franc nunmehr einen greifbaren Wert. Sicher, wenn er gewollt hätte, würde er sich leicht Geld beschaffen können. Er brauchte ja nur ruhig nach Hause zu gehen, seinen Gläubigern die Stirn zu bieten und aus den Trümmern seines Vermögens zu retten, was eventuell noch zu retten war.
    Wie denn! Er würde ja seine Welt vor den Kopf stoßen, er würde ja

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