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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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hier, bringt mich weg von hier!«
    Auf den Rat des Arztes gab man seiner Bitte nach und richtete sein Bett in dem kleinen Salon im Erdgeschoß, der auf den Garten ging. Obwohl er viel phantasierte, entschlüpfte ihm kein Wort, das seinen Verdacht verraten hätte.
    Endlich, am neunten Tag, ließ das Fieber nach. Sein rasselnder Atem wurde ruhiger, er schlief tief und fest. Als er aus diesem langen Schlaf erwachte, war er wieder völlig klar im Kopf. Es war ein furchtbarer Augenblick. Er brauchte einige Zeit, bis er sein Unglück begriff. Zunächst hielt er es für eine Erinnerung an einen schrecklichen Alptraum. Aber nein. Er hatte ja nicht geträumt. Er erinnerte sich an das Belle-Image , Jenny Fancy, den Wald von Mauprévoir und den Brief. Was war aus diesem Brief geworden?
    Er hielt die Augen geschlossen. Was war aus dem Brief geworden? Hatte er gar im Fieberwahn gesprochen? Er erinnerte sich genau, daß er den Brief sorgfältig zusammengefaltet in die Innentasche seiner Weste gesteckt hatte. Er mußte unbedingt diesen Brief haben. Fiele er in die Hände seiner Frau, wäre es aus. Was, wenn sein Kammerdiener wie üblich die Gegenstände, die er in der Tasche seines Herrn fand, auf den Kaminsims legte? Wie konnte er in sein Zimmer gelangen und sich überzeugen? Er hörte, wie sich leise Schritte näherten. Weiterhin hielt er die Augen geschlossen. Berthes Stimme flüsterte:
    Â»Clément. Clément!«
    Er tat, als ob er schliefe, und Berthe schlich vorsichtig hinaus. Die Schlampe, dachte Sauvresy, sie kriecht zu ihrem Geliebten ins Bett.
    Doch zugleich mit dem Gedanken an Rache beherrschte ihn vor allem die Notwendigkeit, den Brief in den Händen zu haben. Ich kann mein Arbeitszimmer erreichen, ohne gesehen zu werden, wenn ich durch den Garten gehe und die Dienstbotentreppe benutze. Berthe denkt, ich schlafe. Bevor sie wiederkommt, bin ich bereits zurück. Und ohne daran zu denken, ob er für das Unterfangen vielleicht noch zu schwach sei, kletterte er aus dem Bett, schlüpfte in Pantoffeln und einen über dem Stuhl liegenden Schlafrock und wandte sich zur Tür. Wenn man mich sieht, sagte er sich, werde ich alles auf mein Fieber schieben.
    Die Lampe im Vestibül war erloschen, und es machte einige Mühe, die Tür zum Garten zu öffnen. Die Kälte war schneidend, zudem war Schnee gefallen. Der Wind strich schaurig durch die froststarren Zweige der Bäume. Die Fassade des Hauses wirkte düster. Ein einziges Fenster war erhellt, das des Zimmers von Hector. Am Fensterkreuz zeichnete sich deutlich die Silhouette eines Mannes ab, der dort stand und die Stirn gegen die Scheibe lehnte. Instinktiv wich Sauvresy hinter einen Strauch zurück und beobachtete von dort den Schatten seines Freundes, der sich hier wie zu Hause fühlte und als Entgelt für die aufrichtigste Gastfreundschaft Ehrlosigkeit, Verzweiflung und Tod über das Haus brachte.
    Ein zweiter Schatten näherte sich dem ersten, der Schatten einer Frau: Berthe. Sie sprach auf Hector ein. Er schien in Gedanken ihre volle, sonore Stimme zu vernehmen, die spröde wie Metall sein konnte, aber auch einschmeichelnd und zärtlich und alle Saiten der Leidenschaft in ihm zum Klingen brachte. Er sah ihre schönen Augen vor sich, mit denen sie über sein Herz herrschte, und deren gesamte Gefühlsskala er zu kennen glaubte.
    Doch was tat sie.
    Zweifellos war sie gekommen, um Hector um etwas zu bitten, was er ihr verweigerte. Ja, sie bat um etwas, Sauvresy erkannte es an Berthes Gesten, die sich hinter dem Musselinvorhang wie im Schattenspiel abzeichneten. Und Hector verweigerte ihr, worum sie bat. Ach, dachte Sauvresy, er bringt es fertig, einer Bitte aus ihrem Mund zu widerstehen, ich habe dazu niemals den Mut aufgebracht.
    Berthes Bewegungen wurden allmählich hektischer, sie mußte wütend geworden sein. Sie wich zurück, hob den Arm, drohte sie gar? Endlich war er besiegt. Sauvresy sah, wie der männliche Schatten nickte. Daraufhin lief sie auf ihn zu, umarmte ihn lange.
    Sauvresy konnte einen Aufschrei nicht zurückhalten. Berthe und Hector schienen miteinander zu reden, sie hatte ihren Kopf gegen seine Brust gelehnt, und er drückte hin und wieder einen Kuß auf diesen Kopf.
    Sauvresy begriff, daß sie jeden Moment wieder zu ihm herunterkommen würde, daß er nicht mehr daran denken konnte, heute den Brief zu holen, und so schnell er konnte, hastete er ins

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