Das Verheissene Land
dem Einbeinigen hinüber. Er zog die Kapuze weiter ins Gesicht, streckte den Rücken mit Hilfe der Krücken und seufzte laut. Er war ungeduldig. Plötzlich hob er die Hand und zeigte backbord über die Reling. Die kleinen, zwergenhaften Krieger kletterten auf die Tonnen und spähten in den Nebel. Tir blieb mitten auf dem Deck stehen, sie hatte schon immer gut sehen können. Der Eisberg hob sich deutlich vor dem grauen Hintergrund ab. Er war nicht so groß wie der vorige, aber Nangors Langschiff änderte trotzdem den Kurs. Kaer folgte ihm, und bald schon war der weiße Berg wieder im Nebel verschwunden. Ein eigenartiges Meer ist das, dachte Tir. Schnee und Eis war sie gewöhnt, aber solche Berge hatte sie noch nie gesehen. Vielleicht hatten böse Götter sie geformt und ins Meer geworfen, um damit fremde Schiffe zu zerschlagen. Und wenn dem so war, was oder welches Land wollten sie damit verteidigen? Sie wusste es nicht, und diese Unwissenheit machte sie unsicher. Sie war eine Galuene, eine Heilkundige, sie konnte lesen und schreiben und wusste mehr über die bekannte Welt als die meisten ihres Volkes. Aber jetzt befand sie sich nicht mehr in der ihr bekannten Welt. Hier war alles genauso fremd und bedrohlich für sie wie für Bran und sein Volk. Sie waren alle gleich, und vielleicht war das gut so. Wenn er das Tal, von dem er geträumt hatte, tatsächlich finden sollte, könnten sie ein neues Leben beginnen, ein Leben in Frieden.
Tir fuhr sich über die Augen. Sie durfte nicht daran zweifeln, dass er das Tal finden würde. Sie musste ihm vertrauen. Jetzt, wo Kianna tot war, hatte sie niemanden mehr außer ihm. Sie war an Deck gelaufen, als sie Hagdar nach ihm rufen hörte, und als sie gesehen hatte, wie der große Mann sich über die Reling beugte und brüllte, hatte sie augenblicklich gewusst, dass das, was sie seit ihrer Abreise aus Tirga befürchtet hatte, geschehen war. Das Meer hatte ihn geholt. Es hatte ihn ihr weggenommen. Sie war an die Reling gestürzt, wollte durch den Nebel schwimmen und ihn suchen, aber Dielan hatte sie festgehalten. Und dann hatten die Schiffe gedreht. Nangor war neben dem Bugsteven auf die Reling geklettert, und Hagdar hatte es ihm gleichgetan. Sie suchten das Wasser ab und ruderten die Schiffe über die blanke See, eine Ewigkeit, wie es ihr vorkam. Sie sackte auf dem Boden zusammen. Sie weinte. Nie wieder würde Bran sich zu ihr legen, nie wieder würde er sein Gesicht in ihre Halsbeuge drücken und so einschlafen. Aber da hatte Dielan geschrien und Hagdar war von der Reling gesprungen. Die Männer hatten Taue ausgeworfen. Alle schrien und rannten aufgeregt durcheinander. Und dann hatten sie Bran über die Reling gezogen. Und er lebte.
Tir blieb an der Reling stehen, bis es dunkel wurde und Hagdar nach oben kam. Er lächelte ihr zu und ging dann zum Steuerruder, um Kaer abzulösen. Die alte Eyna schob den Kopf aus der Luke und rief Turvi, aber der Einbeinige winkte nur mit der Hand über die Schulter zurück. Tir wusste, was Turvi damit sagen wollte; er hatte auch in dieser Nacht nicht vor, unter Deck zu gehen. Eyna würde ihm Suppe und Trockenfisch bringen, und Turvi würde essen, während er weiter in den Nebel spähte.
Als Eyna kopfschüttelnd wieder unter Deck verschwand, kletterte auch Tir die Leiter hinab. Sie hatte gelernt, die glatt geschliffenen Stiegen mit einer Hand hinauf und hinab zu klettern, da sie die andere Hand brauchte, um das Kind zu halten. Es machte ein Bäuerchen, als sie sich, wie immer abends, zu den anderen ans Feuer setzte. Linvi nickte ihr zu, schöpfte Suppe in eine Schale und reichte sie um das Feuer herum. Die meisten Frauen waren hier versammelt. Nari nähte an einem Stück Leder, Girwa zwang Lillevord, still zu sitzen und seine Suppe zu essen, während Linvi ihrem Jüngsten etwas vorsang. Die Männer quälten sich an den Rudern ab, und der Schweißdunst hing schwer unter den Decksbalken.
Tir nahm die Schale entgegen und rührte mit dem Holzlöffel in der dampfenden Suppe, die aus Fisch, Tang und getrockneten Kräutern bestand, die die Frauen für besondere Momente wie diesen versteckt hatten. Die Kräuter stammten aus ihrer Heimat, gepflückt an dem Strand vor dem Zeltlager.
Linvi sagte etwas zu ihr, aber Tir hörte nicht zu. Sie legte ihren Sohn auf den Schoß und sah an der Steuerbordseite an den Ruderbänken entlang bis in den Bug, dorthin, wo Bran saß. Er hatte das Wams abgelegt und saß mit nacktem Oberkörper im schwachen Schein des
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