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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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Talglichts. Der Schweiß lief ihm über die Brust. Er beugte sich vor, zog das Ruder zu sich und stieß sich mit den Beinen ab, bevor er den Oberkörper zurücklehnte. Die Adern schlängelten sich wie Schlangen über seine Arme, er keuchte angestrengt, und unter dem Schweiß glänzten seine unzähligen Narben. Jetzt war er wieder voller Leben, aber Tir erinnerte sich noch sehr gut an den Tag, als sie endlich wieder nach Tirga zurückgekommen war und Dielan ihn auf seinen Armen in Cernunnos’ Tempel getragen hatte. Damals war er mehr tot als lebendig gewesen. Und er hätte nicht überlebt, wenn die Galuenen nicht das Gift aus ihm herausgeschnitten hätten. Sie hatten ihn auf den Steinaltar gelegt und Den, der Hörner trägt, gebeten, auf ihn herabzusehen. Sie hatte in jener Nacht bei ihm gewacht. Sie hatte seine Hand gehalten und die Worte immer und immer wiederholt. Und mit einem Mal hatte sie etwas gespürt – als ob die Dunkelheit selbst sie ansehen würde. Bran hatte nach Luft geschnappt und sich in Krämpfen gewunden. Das Leben kehrte in ihn zurück, und sie hatte Cernunnos’ Blick auf sich gespürt.
    Seitdem hatte sie gewartet. Bran war von den Toten zurückgekehrt, und dafür musste jemand anders sterben. So lautete das Gesetz der Götter: ein Leben für ein Leben. Aber bis jetzt hatte noch keiner von Brans Nächsten mit seinem Leben bezahlen müssen. Aber sie fürchtete sich vor dem Unausweichlichen.
    »Iss jetzt.« Linvi führte ihr den Löffel zum Mund. Tir nahm ihn ihr aus der Hand und folgte lächelnd Linvis Aufforderung. Sie musste dringend etwas essen. Sie war noch immer geschwächt von der Geburt.
    »Lass mich Ulv etwas vorsingen.« Linvi streckte ihre Arme aus.
    Tir legte ihren Sohn in Linvis Arme, und Linvi begann eine Melodie zu summen. Tir lächelte. Wahrscheinlich mache ich mir viel zu viel Sorgen, dachte sie. Vielleicht reichen die Grausamkeiten des Krieges ja, um den Blutdurst der Götter zu stillen. Denn Der, der Hörner trägt, hatte viele Leben für Brans Leben bekommen. Und Kianna war gestorben. Sie war ohne Vorzeichen von ihnen gegangen. Trotzdem fühlte Tir sich nicht sicher. Und Cernunnos würde ein Opfer verlangen. Das tat er immer.
     
    Die Schiffe glitten viele Tage durch den Nebel. Wie viele, vermochte niemand mehr genau zu sagen, weil sie aufgehört hatten zu zählen. Jeder Mann hatte seine Zeiten an den Rudern und schlief, sobald sich die Möglichkeit bot. Die Tage waren grau und kalt, und die Dünung schlug unablässig gegen den Bug. Die Männer an den Rudern richteten sich nach den Strömungen, da nicht einmal Turvi ahnte, in welche Himmelsrichtung sie segelten. Die Waldgeister hielten sich die meiste Zeit an Deck auf, schienen sich aber nicht weiter darum zu bekümmern, wohin das Schiff sie brachte. Aber jedes Mal, wenn die Wache im Ausguck etwas rief und auf neue Eisberge zeigte, kletterten sie auf die Tonnen und spähten in den Nebel hinaus.
    Das Felsenvolk fürchtete die Nächte, wenn die Sicht so schlecht war, dass die Wache im Ausguck nur aus dem Wellenschlag entnehmen konnte, wo sich die Eisberge befanden. Ein paarmal tauchten die Kolosse derart überraschend wie weiße, gigantische Schiffe aus der Dunkelheit auf, dass der Mann am Steuerruder nur mit knapper Not ausweichen konnte. Dann wieder trieben sie so tief im Wasser, dass man den Berg erst bemerkte, wenn das Schiff mit dem Kiel über etwas Hartes schrammte und das Schiff sich zur Seite neigte. Aber die Langschiffe der Arer waren solide gebaut, und auf Nangors Rat hin sammelten sich die Männer, Frauen und Kinder im hinteren Teil des Schiffes, um es von dem eisigen Untergrund zu ziehen.
    So arbeiteten sich die beiden Langschiffe durch das Nebelmeer. Mit jedem Tag trieben die Eisberge dichter im Wasser, aber Bran gab keinen Befehl, die Richtung zu ändern. Wenn er am Steuerruder stand, wusste er, dass er auf dem richtigen Kurs war. Er konnte sich das nicht erklären, es war nur ein Gefühl. Das Meer sang und seufzte. Es war ein Lied der Entbehrungen. Bald schon, da war er ganz sicher, würde er das Meer verlassen und in die Berge wandern.
    Zweimal machten die Schiffe aneinander fest. Nangor warf Schlingen über die Steven, hängte Taurollen zwischen die Relings und ließ die Schiffe treiben. Aber die Männer hatten sich nicht viel zu sagen, und die Frauen sprachen auch nicht so viel wie sonst und zogen sich bald wieder in die Wärme unter Deck zurück. Die Tirganer unterhielten sich flüsternd über fremde Meere und

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